Obst und Gemüse darf wachsen, wie es will

Das Gegurke um die Norm

Obst und Gemüse darf wachsen, wie es will

Obst

Sie war das Symbol für den Bürokratismus schlechthin. Die vor zwanzig Jahren verabschiedete Verordnung 1677/88 der Europäischen Union. In ihr waren zum Beispiel Formulierungen über Größe und Krümmung der Salatgurke verewigt. Die Gurke müsse „gut geformt und praktisch gerade sein mit einer maximalen Krümmung von zehn Millimeter auf zehn Zentimeter Länge“. Diese Normung gehört nun der Vergangenheit an. Seit dem 1. Juli 2009 sind 26 der insgesamt 36 speziellen Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse gestrichen. Das könnte zu allgemeiner Freude über den Bürokratieabbau führen. Wenn man aber etwas näher hinschaut, ist ein eindeutiges Urteil nicht mehr ganz so einfach zu fällen. Die weiterhin geltenden zehn Einzelnormen umfassen nämlich Obst- und Gemüsearten, die etwa 75 Prozent des europaweiten Handels ausmachen: Äpfel, Zitrusfrüchte, Kiwis, Salate, Pfirsiche und Nektarinen, Birnen, Erdbeeren, Gemüsepaprika, Tafeltrauben und Tomaten.

EU-Landwirtschaftskomissarin Mariann Fischer Boel ist sich ihrer Sache sicher, einen großen Teil unnötiger Bürokratie abgebaut zu haben. „Solche Dinge müssen nicht auf EU-Ebene geregelt werden. Es ist viel besser, dies den Marktbeteiligten zu überlassen“, so Fischer Boel. Sie sieht zudem einen Vorteil für Verbraucher, die jetzt aus einer möglichst breiten Produktpalette auswählen könnten.
Die Marktbeteiligten sind allerdings nicht so glücklich, wie man meinen könnte. Die Obst– und Gemüseerzeuger sehen sich nämlich neuen Normen gegenüber. Die Wirtschaftskomission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) hat bereits Vermarktungsnormen entwickelt für die 26 Obst- und Gemüsearten, deren EU-Normen gestrichen sind. Und zwar deren 50, die diese Lücke in der Praxis sehr wahrscheinlich füllen werden. Die Erzeuger befürchten ebenso, dass der Lebensmitteleinzelhandel eigene und zum Teil unsinnige Anforderungsprofile erstellt. Dass dem Handel die Streichung der Normen ein Dorn im Auge ist, lässt sich auch sehr einfach begründen, denn sie sorgten bis dato für eine bessere Vergleichbarkeit und vor allem für leichtere Verpackungsgrößen und -arten. Sprich, man konnte mit genormten Kisten und Verpackungsmaterial genau die Bestellmenge berechnen und somit exakt kalkulieren.

Es bleibt also starker Zweifel, ob „der Verbraucher“ überhaupt an der Ladentheke entscheiden kann, ob er nun die stärker gekrümmte Gurke kaufen möchte oder nicht. Im Zweifel wird schon aussortiert, bevor das grüne Gemüse in die Nähe eines Supermarktes kommt.
aid, Harald Seitz

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