Gault Millau 2007

Die deutsche Küche braucht einen Klinsmann

Der neue Gault Millau prophezeit kürzere Speisekarten und höhere Preise in der Spitzengastronomie – „Koch des Jahres“: Tim Raue in Berlin – 19,5-Punkte-Höchstnote für Joachim Wissler – „Tantris“ in München und „Traube“ in Grevenbroich abgewertet

Kocht heute jemand so gut wie Witzigmann 1972 bei Eröffnung des Tantris in München, erreicht er aufgrund des Qualitätsverfalls bei den Produkten keineswegs die gleiche geschmackliche Wirkung. Denn Obst und Gemüse haben nach neuer medizinischer Erkenntnis heute nur noch 30 % des Vitamingehalts von 1970, und mit dieser von Züchtern und Vermarktern verursachten Entwicklung ging ein nicht messbarer, aber ähnlich dramatischer Aromenverlust einher.
Daraus folgert der Gault Millau: „Wenn die Entwicklung so weitergeht – und wer könnte die Politik bremsen, die dazu führte? – müssen sich Köche, Gäste und Restaurantkritiker mit einer neuen Form von Gastronomie abfinden. Der Koch kann dann guten Gewissens nur noch Produkte verwenden, deren Lieferanten er vertrauen darf – können das Importeure und Großhändler sein? Im Prinzip ja, aber nicht bei den derzeitigen Kontrollmethoden der deutschen Behörden, die zwar Gastronomen schikanieren, aber keinen Gammelfleischskandal verhindern können. Trauen kann der Koch nur Viehzüchtern, Obst- und Gemüsebauern, Fischern, Metzgern und Bäckern, die er kennt. Wir Gäste dürfen dann im Restaurant keine umfassende Speisenkarte mehr erwarten, sondern nur Gerichte aus vermutlich wenigen Produkten.“

Bedrückt macht der Guide auch darauf aufmerksam, dass die Spitzenküche „mit ihren derzeitigen (seit drei Jahren ziemlich stabilen) Preisen, die im Vergleich zu Frankreich, London oder New York puren Schnäppchencharakter haben, nicht länger zurechtkommen, da die Kosten für Produkte und Energie ständig steigen und der für die Mischrechnung wichtige Weinkonsum im Restaurant sinkt – im Jahr 2006 um bis zu 30%. Alle Spitzenköche und ihre Patrons reden von dringlichen 10 % Mehrerlösen – sie wissen nur nicht, wie sie es ihren Gästen sagen sollen. Die kleine, feine Branche hat keine Lobby, die das Thema vermitteln könnte. Jeder hofft, dass die anderen Köche aufschlagen und er dann nachziehen kann.“

Koch des Jahres: Tim Raue aus Berlin, der „in der Hauptstadt die Weltstadt auftischt“

In ihrer generellen Kritik an der deutschen Küche monieren die Tester in der jetzt erscheinenden Deutschlandausgabe 2007: „In allzu vielen Küchen übernehmen Tropfen von Balsamico oder grünem Öl in fast allen Gängen jene Dekorationsaufgaben, die früher der Streupetersilie oblagen. Flächendeckend überziehen Jacobsmuscheln, Chutneys und geschmorte Kalbsbacke die Republik, und Obst schon vor dem Dessert nimmt ein wenig überhand. Jeder Provinzkoch hantiert mehr oder weniger hilflos mit Curry, Ingwer und Zitronengras. Genauso inflationär sind Schäume und Gelees aus spanischen oder englischen Küchenlabors. Fazit: Der deutschen Gastronomie täte ein frischer Klinsmann-Wind so gut wie er dem deutschen Fußball im WM-Sommer tat.“

Als „Koch des Jahres“ kürte der Gault Millau den 32jährigen Tim Raue vom Restaurant „44“ in Berlin. Aus der Begründung: „Er tischt in der Hauptstadt die Weltstadt auf: Faszinierend verbindet er das modisch Erwünschte mit dem handwerklich Möglichen in höchster Geschmacksintensität.“ Der „(r)evolutionäre Raue“ brillierte mit Gerichten wie glasierten Schweinerippchen auf scharfem Püree von der Sobrassada-Wurst und chinesisch inspiriertem Gemüse aus Ananas, Sellerie und Paprika oder Erbsencreme mit gebackenem Kaisergranat und herrlich frischem, geradezu knusprigem Salat aus Sojasprossen, Apfel und Ingwer mit Melissenöl. Er bekam vom Gault Millau, der nach dem französischen Schulnotensystem urteilt, 18 von 20 möglichen Punkten, die „höchste Kreativität und Qualität“ bedeuten. Raue, der aus familiären Gründen nicht wunschgemäß Design oder Architektur studieren konnte, folgte stattdessen dem saloppen Rat eines Freundes: „Kochen ist doch was Kreatives.“ In seiner Freizeit spielt er gern Golf und antwortet auf die Frage, ob er ein Handicap habe: „Ja, jedes Mal wenn ich auf den Platz gehe.“

Eine höhere Bewertung als Raue haben hierzulande nur 7 Köche: Je 19,5 Punkte erhielten wieder
– Harald Wohlfahrt von der „Schwarzwaldstube“ in Baiersbronn-Tonbach: „Seine Genussdarbietungen zu beschreiben, ist ein so hoffnungsloses Unterfangen wie Musik in Worte zu fassen. Voller Virtuosität inszeniert er die Aromen als Solisten und Ensemble in einer Dramaturgie, die auch den Nuancen jede Entfaltungsmöglichkeit schafft.“
– Helmut Thieltges vom „Waldhotel Sonnora“ in Dreis bei Wittlich in der Südeifel: „Er bereitet harmonisch gerundete Kulinarkunstwerke auf betörenden Tellern wie die hierzulande nirgendwo übertroffene Entenbrust mit Gewürzhaut, glacierten Nektarinen und einer Farce aus Gänseleber und Entenkeule im Wirsingblatt.“
– Dieter Müller vom „Restaurant Dieter Müller“ im „Schloss Lerbach“ in Bergisch Gladbach bei Köln: „Für den gerösteten Tafelspitz in dicken Scheiben von überraschender Zartheit mit einer fast groben, aber grandiosen Senfkörnersauce, glacierten Nierchen, jungem Lauch und kleinen Pfifferlinge geben wir ohne zu zögern unsere Idealnote.“
Auf die Höchstnote 19,5 Punkte verbesserte sich Joachim Wissler vom „Vendôme“ in Bergisch Gladbach, bei dem sich die Tester „in Ehrfurcht vor so viel technischer Brillanz verneigen: Erst marinierte, dann tiefgefrorene Gänseleber wird mit einer Spezialreibe zu feinem Schnee geraspelt, der sich mit süßem Mandelkrapfen, Saft von Lakritz und grünem Apfel sowie Spänen und Scheiben von schwarzen Trüffeln zu einer ungemein anregenden Aromenkaskade verbindet.“

Diesem Quartett folgen mit je 19 Punkten, die sie auch im Vorjahr hatten:
– Hans-Stefan Steinheuer von „Steinheuers Restaurant zur alten Post“ in Bad Neuenahr bei Bonn: „Aus der langen Liste seiner Geistesblitzen zitieren wir einfach mal Landei mit Kaviar und Speckschaum, Steinbutt mit Schneckenkruste, Pastis/Schnecken-Sauce und Süßkartoffelpüree, Himbeeren auf bretonischem Mürbeteig mit Rosengelee und Milcheis.“
– Heinz Winkler von der „Residenz Heinz Winkler“ im oberbayerischen Aschau: „Der Großmeister der europäischen Klassik fasziniert stets aufs neue mit sensationellen Saucen und behandelt seine Produkte so, wie er keinen Kollegen je behandeln würde: mit Demut.“
– Thomas Bühner vom „La Vie“ in Osnabrück: „Bei Hummer-Carpaccio mit Limonenschaum, drolligen Passionsfruchtnudeln, süßem Pesto, Erdnüssen und Kokosraspeln blitzt sein avantgardistischer Schalk auf.“

„Aufsteiger des Jahres“: ein Italiener mit „zeitgemäßer Küche ohne jede Modetorheit“

18 Punkte haben – wie Raue – noch 24 Köche, davon 8 in Baden-Württemberg, 4 in NRW, 3 in Bayern und 2 in Berlin. In diesem Verfolgerfeld der Elite gab es 4 Veränderungen gegenüber dem Vorjahr.

Juan Amador aus dem hessischen Langen („Restaurant Amador“) und Peter Nöthel aus dem Düsseldorfer „Hummerstübchen“ holten sich den im letzten Guide eingebüßten 18. Punkt zurück. Eins auf die Kochmütze bekamen Hans Haas vom Münchner „Tantris“ und Dieter L. Kaufmann von der „Traube“ im rheinischen Grevenbroich: Sie sanken wegen „kreativen Stillstands“ in ihren Küchen von 19 auf 18 Punkte.

Auf 17 Punkte verbesserten sich 9 Köche, von denen Cosimo Ruggiero vom „Hippocampus“ in München als „Aufsteiger des Jahres“ geehrt wurde, weil „er schnörkellos das Urtümliche des ländlichen und die Leichtigkeit des modernen Italiens zu einer zeitgemäßen Küche ohne jede Modetorheit vereint. Allein dafür, dass er kein Rucola, Balsamico und Zitronengras auf der Karte hat und dass es keine Schäumchensaucen, Ministrauchtomaten und Tropfen von Balsamico oder grünem Öl als vermeintlich dekorative Elemente auf seinen Tellern gibt, verdiente er es, zum Italiener des Jahrzehnts gekürt zu werden“.

Die 8 anderen: Fabian Feldmann vom „Gastronomique im Schwarzen Adler“ in Heroldsberg bei Nürnberg, Martin Göschel vom „Tiger-Restaurant“ in Frankfurt/Main, Dieter Grubert vom „Titus“ in Hannover, Rainer Hensen von der „Burgstuben-Residenz“ im niederrheinischen Heinsberg, Dirk Luther von der „Meierei“ in Glücksburg, Alessandro Pape vom „Fährhaus“ in Munkmarsch auf Sylt, Detlef Schlegel vom „Stadtpfeifer“ in Leipzig und Josef Wolf vom „Eisenbahn“ in Schwäbisch Hall.

910 Restaurants ausgezeichnet, darunter 106 in den neuen Bundesländern

Insgesamt bewertet der alljährlich wegen seiner strengen Urteile und deren zuweilen sarkastischer Begründung von den Köchen gefürchtete, von den Feinschmeck
ern mit Spannung erwartete Gault Millau in seiner neuen Ausgabe 1120 Restaurants. Die 30 Tester, die stets anonym auftreten und dieses Jahr 291200 € Spesen machten, verliehen 910 Luxuslokalen und Landgasthöfen, Bistros und Hotelrestaurants die begehrten Kochmützen. Dazu mussten die Köche mindestens 13 von 20 Punkten erreichen, was einem Michelin-Stern nahe kommt.

Auch 106 Küchenchefs in den neuen Bundesländern erkochten diese Auszeichnung. An ihrer Spitze stehen mit 17 Punkten – neben dem Newcomer Detlef Schlegel vom Leipziger „Stadtpfeifer“ – wie bisher Marcello Fabbri vom Restaurant „Anna Amalia“ in Weimar, Oliver Heilmeyer vom „17fuffzig“ in Burg (Spreewald) und Dirk Schröer vom „Caroussel“ in Dresden.

Ihnen folgen mit 16 Punkten Frank Schreiber vom Goldenen Hahn“ in Finsterwalde, Ronny Siewert vom „Chezann“ in Rostock und Stefan Frank vom „Le Croy“ in Greifswald, die diese Note erstmals erhielten, sowie Claus Alboth von „Alboth’s Restaurant im Kaisersaal“ in Erfurt, Peter Knobloch vom „Meeresblick“ in Göhren auf Rügen, Carmen Krüger von „Carmens Restaurant“ in Eichwalde bei Berlin und
Mario Pattis vom „Pattis“ in Dresden und Peter Maria Schnurr vom „Falco“ in Leipzig. Da auch die Welt der Gourmandise im ständigen Wandel ist und die Plätze im Feinschmeckerparadies immer wieder neu gerührt und erkocht werden, servierte der Gault Millau im Vergleich zur Vorjahrsausgabe 103 langweilig gewordene Restaurants ab und nahm 115 inspirierte Küchen neu auf. 149 Köche wurden höher als im letzten Guide bewertet, 116 niedriger. 43 Küchenchefs verloren die Kochmütze.

Außer dem Koch und dem Aufsteiger des Jahres kürte der Guide noch 7 weitere Würdenträger: als
– „Entdeckung des Jahres“ Denis Feix vom „Il Giardino“ im niederbayerischen Bad Griesbach,
– „Oberkellner des Jahres“ Sonja Fischer vom „Villino“ in Lindau
– „Sommelier des Jahres“ Evangelos Pattas vom „Délice“ in Stuttgart,
– „Restaurateur des Jahres“ Otto Geisel in Bad Mergentheim, weil er in seiner „Zirbelstube“ und „Vinothek & Markthalle“ „ein Paradebeispiel konventionsfreier Gastlichkeit auf hohem Niveau bietet, das Jugend lockt“,
– „Kochschule des Jahres“ Alexander Tschebull vom „Allegria“ in Hamburg,
– „Barkeeper des Jahres“ Nicole Bolze von der „Pianobar“ im Berliner Steigenberger Hotel,
– „Hotelier des Jahres“ den Engländer Sir Rocco Forte, der „den Deutschen auf seine Art Mut zum Aufschwung macht und gleich drei Metropolen um Prachtbauten bereichert: Frankfurt, Berlin und München“.

Außerdem testete der im Münchner Christian Verlag erscheinende Reiseführer für Genießer (900 Seiten, 30 €) die beiden nobelsten Kreuzfahrtschiffe der Welt: die „Seven Seas Voyager“, deren Küche der junge Brandenburger Cornel Ruhland dirigiert (zuvor im Club Aldiana in Tunesien), und die „Crystal Serenity“ mit dem US-japanischen Starkoch Nobu Matsuhisa. Ferner beschreibt und klassifiziert er 420 Hotels.

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