Iris Bettinger

Iris Bettinger ist eine der wenigen deutschen Spitzenköchinnen. Sie ist Küchenchefin und Geschäftsführerin des „Hotel Restaurant Reuter“ in Rheda-Wiedenbrück bei Gütersloh. Doch lieber als über Frauen am Herd zu sprechen, erzählt die 45-Jährige, warum ein Team wichtig ist, woher das Wortungetüm „interregiomediterraneurasisch“ für Gerichte wie knusprige westfälische Töttchen-Praline oder gefüllte Wachtel mit Kaffee-Curry-Jus auf ihrer Gourmet-Speisekarte stammt – und warum sie gerade noch den Dampf-Hochdruckreiniger in der Hand hatte.

Iris Bettinger

Nein, historisch sieht das beachtliche Ensemble aus drei zusammenhängenden Gebäudeteilen aus den 70er- und 90er-Jahren sowie von 2012 am Rande des Rheda-Zentrums von Rheda-Wiedenbrück nicht aus. Doch es beherbergt 35 Hotelzimmer, eingerichtet mit edlem Lokalkolorit durch Design-Möbeln von Cor und Interlübke, beliebt bei Geschäftsreisenden der in Ostwestfalen-Lippe ansässigen Hidden Champions, und natürlich das elegant-intime Gourmet-Restaurant Reuter und die legere Gastwirtschaft Ferdinand. Dahinter steckt vor allem eine spannende (Küchen-)Geschichte: von Ferdinands Kneipe zur erfolgreichen „Weiberwirtschaft“. 

Eine Familienangelegenheit seit 1894: Vier Generationen Hotel Restaurant Reuter

Urgroßvater Ferdinand Reuter, mütterlicherseits, betrieb hier seit 1894 eine Mischung aus Kolonialwarenladen und Kneipe, dann kamen die starken Frauen. „Mein Opa war der Mann mit Zigarre hinter der Theke“, blickt Iris Bettinger zurück. Anstelle des gelernten Kochs stand Bettingers Oma in der Küche und kochte deftig Westfälisches: Pfefferpotthast und Bratenschnittchen. „Als dann 1977 meine Mutter nach Hause kam, ließ meine Oma quasi den Löffel fallen“, beschreibt Iris Bettinger die konsequente Staffelstabübergabe. Eva-Maria Bettinger hatte – nach ihrer vorbestimmten Kochausbildung in der Umgebung – in der Schweiz die französische Küche und ihren Mann kennengelernt und als Servicechef mitgebracht. Sie zweiteilte das Restaurant: bodenständige Bistroküche mit Dicken Bohnen mit Speck und feinere Küche mit Lachs im Blätterteig, Nieren in Senfsauce und Vitello tonnato. 

interregiomediterraneurasisch – was ist das denn und wie schmeckt das?

„Ich lasse mich ungern festlegen!“ sagt Iris Bettinger entschieden und überschreibt im mit einem Michelinstern ausgezeichneten Restaurant ihr Menü mit einem Wortungeheuer: interregiomediterraneurasisch. Die Kochkunst der vierten Generation fußt auf klassisch-französischer Basis, bereichert von lokalen Zutaten und globalen Geschmäckern. Völlig undogmatisch und doch stets mit Gästewünschen im Fokus wird mal eine populäre Ceviche oder Gelbschwanzmakrele serviert, in die Gastwirtschaft locken die Evergreens Tatar und Schnitzel „Wiener Art“ vom schwäbisch-hallischen Schwein. „(…) Eigenständiger Crossover-Stil, der wie ein richtig guter Song populäre Elemente mit dem gewissen Etwas abseits des Mainstreams verbindet“, lobt der renommierte Restaurantführer Gault&Millau in seiner aktuellen Ausgabe das Restaurant. Gemeint ist damit eine Küche, bei der knusprige Töttchen-Praline, ein typisch westfälisches Innereien-Ragout, authentisch, doch verfeinert und erleichtert auf marinierten Rettich, Senfsaat, Apfel und Brennnessel-Sud trifft, gleichzeitig ein edler Meeresfisch wie Steinbutt seinen berechtigten Platz hat oder eine ausgelöste und gefüllte Wachtel mit Karottenpickert, Datteln und Kaffee-Curry-Jus Kochhandwerk, Regionalität und Weltoffenheit demonstriert.

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Trüffel, Gänseleber und Hummer? Im bodenständigen Ostwestfalen kein Muss für die Qualitätsfanatikerin! Die Einheimischen treffen sie regelmäßig mittwochs und samstags in Kochjacke auf dem nahen Wochenmarkt beim Einkauf von Gemüse, Eiern und Kartoffeln an. Bettinger schwärmt von Goldforellen und Saiblingen vom Fischzüchter an den Emsquellen im nahen Hövelhof, einer kürzlich gemachten Entdeckung: „Da fahren wir selbst schnell hin – lebendiger geht das gar nicht!“ Pflaumen aus Stromberg, Schweinefleisch vom Bauern und nicht von einem der berühmt-berüchtigten Schlachtgiganten aus Rheda-Wiedenbrück: Die Detailliebe setzt sich fort bis zum Hotelfrühstück mit hausgemachten Marmeladen und selbstgeräuchertem Speck zum Ei. Seit 2008 ist Iris Bettinger – auch hier als eine der viel zu raren Frauen – Mitglied der Jeunes Restaurateurs und greift gerne auf Produkte des Genussnetzwerkes der Vereinigung junger Spitzenköche zurück: Garnelen in Sashimi-Qualität aus Bayern von Crusta Nova oder rahmig-intensive Büffelmorzarella von Büffel Bill.

Im wahrsten Sinne des Wortes: Lehrjahre sind keine Herrenjahre

Eigentlich war lange überhaupt nicht klar, dass Iris Bettinger irgendwann das Küchenzepter und den Familienbetrieb übernimmt. Doch wegen vieler Wartesemester vorm nach dem Abitur angestrebten Lebensmitteltechnologie-Studium bewarb sie sich, frei von familiärem Druck, für eine Ausbildung bei den besten Adressen in Süddeutschland: Bareiss, Traube Tonbach, Colombi Hotel. Nur ein Spitzenhaus in Baden-Baden habe keine Frau für die Küche anstellen wollen, ansonsten hätte man sie überall gerne genommen: „Abitur, reiferes Alter mit 19, damit man keine Probleme mit Stunden hatte sowie Führerschein, zudem ein Gastro-Kind.“ Wegen der lebhaften Studentenstadt Freiburg wurde es die Renommeeadresse Hotel Colombi. Ihr Lehrmeister Alfred Klink, ein „Drill Sergeant“, ein harter Hund mit Schnäuzer und eiserner Selbstdisziplin, hatte auch erkannt, dass Frauen – wenngleich nur zwei, drei unter 15 Azubis – der Stimmung im Küchenteam zuträglich waren. Bettinger denkt zwar zurück an Härte, Disziplin und viele Arbeitsstunden, nicht jedoch an Negativerlebnisse als Frau im männerdominierten Beruf. Belohnt wurde ihr Durchhaltevermögen mit wertvollen, prägenden Einblicken in badische Regional- und klassische Sterneküche sowie Catering und Bankett für die nächsten beruflichen Schritte. 

Tough, authentisch, eloquent – und erfolgreich

Die führten sie über ein EU-Programm zuerst nach Frankreich. Danach nach Hamburg ins Louis C. Jakob unter Thomas Martin, bevor Bettinger nach München weiterzog, wo ihr damaliger Freund und heutiger Mann Marco Rückl, gelernter Steuerfachgehilfe, Jura studierte. In der Käfer-Schänke, erzählt Bettinger, habe sie an Küchenchef Fritz Schilling eindrücklich begeistert, wie kreativ und spontan er mit saisonalen Zutaten gekocht habe. Noch moderner ging es bei der nächsten Station im Münchener Mandarin Oriental bei Holger Stromberg zu. Den Lehrgang zur Küchenmeisterin, den sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, absolvierte sie wie im Vorbeigehen – erfolgreich als Jahresbeste in Bayern.

Aller Anfang ist schwer: Gelungene Überzeugungsarbeit in OWL

Hatte ihre fortschrittlich eingestellte Mutter den Gästen in der Schweinezucht-Region noch Kalbfleisch oder gar Innereien schmackhaft machen müssen, brauchte die bestens geschulte Rückkehrerin Iris in der Heimat eine kurze Eingewöhnungszeit. Schließlich hatte sie nie im Familienbetrieb gearbeitet, keine westfälische Küche gekocht und wollte dennoch mit ihrer Top-Erfahrung sofort viel. Zu viel. Das stieß anfangs auf das latente Misstrauen der Stammgäste und auch des rein weiblichen Küchenteams ihrer Mutter. „Teil eines Teams zu sein, ist das eine. Eine Mannschaft zu führen, was ganz anderes“. Zum insgesamt glänzenden Gelingen der endgültigen Betriebsübergabe 2007 trug gewiss bei, dass die Bettinger-Frauen bis vor wenigen Jahren Seite an Seite kochten. Noch heute springt die 71-jährige Mutter liebend gerne ein und füllt und wickelt unnachahmlich Kohlrouladen. Spätestens seit dem Michelinstern im Jahre 2012 sind die Rheda-Wiedenbrücker stolz auf ihre Spitzenköchin und strömen weiterhin auch gerne für Anlässe und Familienfeiern aller Art in die Gastwirtschaft.

Mit dem Michelinstern kam die Öffentlichkeit: Frau am Herd!

Ebenfalls zu einem anderen Thema muss sich Iris Bettinger seitdem häufig erklären: „Wenn als erstes gefragt wird: Wie ist das als Frau in der Küche? Da werde ich manchmal pampig!“ Sie wolle nicht darauf reduziert werden und fragt, wo denn der Unterschied liege – gerade im Jahr 2021. „Man muss einfach seine Leistung genauso bringen und dann läuft das auch!“ Mittlerweile gebe es immer mehr Köchinnen und so ein Wandel dauere eben. Ihr eigenes Küchenteam ist längt durchmischt und nicht nach Geschlechtern aufgestellt. Ist denn eine weibliche Handschrift beim Essen erkennbar? Sie ist sich sicher: „Wenn Du nicht weiß, wer hinter der Tür kocht, kannst Du doch nicht sagen, ob das Gericht eine Frau oder ein Mann gekocht hat.“

Restart Gastro: Optimistisch und bestens aufgestellt in die Zukunft

Auch während des zweiten Zwangspause blieb die Küche mit To-go-Gerichten und Kochboxen warm und nicht kalt – ein Konzept, das wie vielerorts auch zu normalen Zeiten vielleicht parallel weitergeführt wird – und das Personal konnte Team-Playerin Bettinger zusammenhalten: „Wir haben die ganze Zeit unseren Spüler weiterbezahlt, damit er uns erhalten bleibt“. Die staatlichen Hilfen kamen zwar verspätet, aber sie hätten geholfen. Ein Part in den sich Marco Rückl, der sich ansonsten um die administrative Seite des Geschäftes kümmert und die Gastgeberrolle bekleidet, hineingekniet hat. Es wurde renoviert, gestrichen und die Brandmeldeanlage erneuert sowie neue Geräte angeschafft. Und selbst Hand angelegt: Vorm Gespräch stand Iris Bettinger noch mit dem Dampf-Hochdruckreiniger in den Sanitäranlagen und brachte alles für der heißerwarteten Wiederstart auf Vordermann, pardon, Vorderfrau. Eine Überraschung ist das nicht.

https://www.hotelreuter.de/index.php?id=93

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Zusammenfassung

Iris Bettinger ist eine der wenigen deutschen Spitzenköchinnen. Sie ist Küchenchefin und Geschäftsführerin des „Hotel Restaurant Reuter“ in Rheda-Wiedenbrück bei Gütersloh. Doch lieber als über Frauen am Herd zu sprechen, erzählt die 45-Jährige, warum ein Team wichtig ist, woher das Wortungetüm „interregiomediterraneurasisch“ für Gerichte wie knusprige westfälische Töttchen-Praline oder gefüllte Wachtel mit Kaffee-Curry-Jus auf ihrer Gourmet-Speisekarte stammt

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