Lange habe ich mich geweigert, das Nobelhart & Schmutzig im Berliner Kreuzberg zu besuchen. „Brandenburg im Winter“ hörte sich nicht so wirklich spannend an.
Das Konzept ist ganz einfach: Es werden nur Produzenten aus der Umgebung genommen, „brutal lokal“. Kritiker reden bei dem Menü im Nobelhart & Schmutzig auch gerne von „Des Kaisers Neue Kleider“.
Das empfand ich nach einem wundervollen Abend im Nobelhart & Schmutzig als übertrieben, verstehe aber, was gemeint ist. Und im vollem Restaurant – trotz Covid19 – sah auch keiner der Gäste genervt oder unzufrieden aus. Ganz im Gegenteil. Der charmant-freche Billy Wagner, Wirt & Sommelier, hat sein Publikum fest im Griff. Er bestimmt, wer rein darf und was drinnen abläuft. Fotos sind nicht erlaubt! Alles zum besten der Gäste.
Es ist fast so als ob man bei „Billy seiner Kneipe“ zu Gast ist. Aber Billy hat alles im Blick. Es läuft sehr schön locker-schnoddrig, aber auch absolut präzise. Man bekommt auf den blanken Holztisch ein stumpfes Messer und einen Besteckkasten. Das Messer behält man den ganzen Abend, aus dem Besteckkasten (nur Gabel und Suppenlöffel) bedient man sich selber, wenn man erneuern möchte. Ungewöhnlich in der Preisklasse. Aber man fühlt sich beim Diktator Billy sehr wohl.
Da nun keine Fotos erlaubt sind, habe ich keine Fotos. Auf Google sind ein paar „illegal“ gemachte Fotos zu sehen.
Es gibt nur ein 10 Gang-Menü, das Do – Sa 130 € und sonst 105 € kostet. Keine Angst, das schafft auch der Opa. Die Gänge sind alle klein! Die Getränkekarte mit viel „geilem Scheiß“ ist ungewöhnlich einzigartig und lesenswert! Typisch Wagner!
Das Menü startete mit einer Schale Nackthafer, einem aromatischen Tee.
Es ging weiter mit Kamille auf Chicorée. Das ist sicher so einer der Gänge, über die man diskutieren kann. Danach folgte eine dick mit Schmalz bestrichene Topinamburknolle. Es erinnerte irgendwie an eine Schmalzstulle. Schmeckte gut. Anschliessend kam Berliner Roggen Sauerteig Brot, dass stets erneuert wurde, mit recht guter Rohmilchbutter. Später gab es zum Vergleich eine Rohmilchbutter von 2017. Die schmeckte schon wie Käse.
Die Zwiebel mit Holunderblüten war gut, ebenso der Sellerie mit schwarzem Johannisbeerholz. Meine vegane Tochter wäre bisher schwer entzückt gewesen. Alles gut gemacht. Keine Frage.
Ein erstes Highlight für mich waren die Berliner Senfeier. Das schmeckte nach Heimat. Allerdings konnte man die kleinen Kartoffelkügelchen kaum mit der Gabel in der Sauce zerquetschen, da sie etwas hart waren, was man beim Essen nicht merkte. Fast wäre mir beim ersten Versuch das Kartoffelkügelchen über den gesamten Tisch gerutscht! Sehr zum Amusement meiner Frau!
Man sitz recht interessant im Nobelhart und Schmutzig. Entweder am Tresen oder am Tisch. Hinter dem Entree startet ein hufeisenförmiger Tresen, in dessen Innenbereich Teile der Küche sind. Ganz am Ende des Gastraums ist ein weiterer Holztisch für ca. 15 Leute. Hier isst man mit Wildfremden am Tisch. Allerdings auf großen Stühlen mit angenehmen Sitzabstand zum Nachbarn. In Paris würden doppelt so viele Gäste an dem Tisch passen. Wir empfanden das als nicht unangenehm.
Insgesamt sind die Portionen klein. Mein halbwüchsiger Sohn guckte mich manchmal nach dem „Happen“ leicht verzweifelt an und aß noch ein Rohmilch-Butterbrot.
Für den nächsten Gang hätte man den Küchenchef Micha Schäfer knutschen können. Ein Gericht, dass noch lange auf der Zunge und im Kopf bleibt. Berlinisch erst seit Ende des letzten Jahrtausends dank schwäbischer Zuwanderung: Käsespätzle. Ich mag sehr gerne Käsespätzle. Am liebsten von meiner österreichischen Freundin Grete, aber auch die in der Josef Roth Diele schmecken mir gut. Aber was Schäfer hier auf den Teller brachte, war der Hammer. In dieser Güte hatte ich sie noch nie. Auf den Spätzle waren so etwas wie Dänische Röstzwiebeln aber in ganz und sehr gut. Darunter waren die Käsespätzle in einer schlotzigen, wunderbaren samtigen Sauce, die viel Volumen im Gaumen gab. Es erinnerte mich an ein superbes Risotto – ich glaube von Bottura. Leider kam ich mir wie der Tester in THE TASTE vor: Ein Löffel und vorbei. Wäre Micha Schäfer jetzt vorbeigekommen, ich hätte ihn gefragt, ob er uns noch einmal eine Runde des Gerichts, gerne etwas größer diesmal, machen würde. Er kam aber nicht.
Jetzt kam der Fleischgang. Hühnchen mit Lauch. Die Haut war einmalig kross, fast schon wie beim Schwein, das darunterliegende Stückchen Fleisch gut. Wobei meine Frau ein weniger gutes Stück erwischte.
Zum Nachtisch gab es Schwarze Haselnuss mit einem Milcheis und anschliessend Röstmalzeis mit Gewürzfenchel. Das war alles prima.
An der Tür gab es als Wegzehrung noch eine leckere Canelés de Bordeaux.
Fazit: Es war überhaupt nicht schrecklich, sondern gut. Man muss bereit sein, sich darauf einzulassen. Das Konzept „Brutal Lokal“ ist essbar, aber nicht immer wirklich der Hit. Ich würde mit Freude jederzeit wieder hingehen, wenn Geld keine Rolle spielen würde. Tut es aber leider. Wir bezahlen unsere Rechnungen* selber! So würde ich lieber in ein konventionelles Restaurant gehen.
Abr ich würde mit Freunden aus Skandinavien oder NYC hingehen, um etwas mit dem Küchenkonzept zu prahlen. 😉
Beeindruckend war der durchgehend aufmerksame und oft unsichtbare Service. Nicht einmal plärrte der Service in unser Gespräch „Schmeckt es denn?“ Danke dafür! Diese Art der Professionalität ist leider so selten geworden!
Sollte das Duo Schäfer/Wagner ein Bistro nebenan aufmachen, wo es u.a. Senfeier oder Spätzle gäbe, würde ich Stammgast werden.
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*Unsere Getränke wurden vom Nobelhart & Schmutzig bezahlt. Das hatte keine Auswirkung auf den obigen Artikel.
Summary
Nobelhart & Schmutzig: Es war überhaupt nicht schrecklich, sondern gut. Man muss bereit sein, sich darauf einzulassen. Das Konzept „Brutal Lokal“ ist essbar, aber nicht immer wirklich der Hit. Ich würde jederzeit – mit Freuden – wieder hingehen