Bernhard Steinmann im Restaurant Cell

Man hört oft, dass Berlin eine magische Anziehungskraft auf kreative Menschen hat. Auch der russische Küchenchef Evgeny Vikentev konnte sich anscheinend dieser Kraft nicht entziehen.Vikentev war kürzlich noch den meisten Berlinern unbekannt, doch die Nachricht, dass er in St. Petersburg ein renommiertes Spitzenrestaurant, das Hamlet & Jacks sowie eine Weinbar führt, hat sich bei echten Foodies recht schnell herumgesprochen.

Das Restaurant liegt in der Charlottenburger Uhlandstraße. Derzeit noch etwas ungemütlich durch die Baumaßnahmen auf der anderen Straßenseite, die sich jedoch hoffentlich dem Ende nähern. Wobei Baumaßnahmen in Berlin schon mal etwas länger dauern können.

Vikentev hat als Küchenchef Simon Dienemann verpflichtet, der kein Unbekannter in Berlin ist. Er war vorher Chef im VAU und Tulus Lotrek und Sous-Chef bei keinem Geringeren als Tim Raue.

Chefsommelier ist Pascal Kunert. Auch kein Unbekannter. Wir kennen ihn aus dem mittlerweile geschlossenen Dreisterner La Vie in Osnabrück und dem ebenfalls geschlossenen Zweisterner Reinstoff, Berlin. Daraus würde ich jetzt keine Rückschlüsse ziehen.

Kunert war an diesem Abend in Sachen Wein unterwegs und so begaben wir uns in die Hände von Jonathan Staneker, den wir aus dem Charlottenburger „Schwein“ kannten.

Das Ambiente des Restaurants ist von Ästhetik und Funktionalität geprägt. Die Tischbereiche sind von offenen Schmiedeelementen umgeben und lassen so die Illusion von Zellen entstehen.

Der Empfang war überaus freundlich und schon bald beschäftigten wir uns mit der Speisekarte. Es werden zwei Menüs mit jeweils neun Gängen angeboten. Eines davon, „Roots Religion“ ist vegetarisch, wurde auf sechs Gänge gekürzt und von meiner Frau ausgewählt.

Ich entschied mich für „Time Steps“, ein Menü mit einer Besonderheit, auf die ich gleich noch kommen werde und das ich Ihnen hier vorstellen werde. Die Freunde vegetarischer Menüs muss ich auf meine Homepage verweisen: http://www.bsteinmann-gourmet-unterwegs.de Dort finden Sie auch die Beschreibung von „Roots Religion“. Natürlich gab es auch die so beliebten Küchengrüße, doch um den Bericht etwas zu kürzen möchte ich nur auf eine interessante Kreation eingehen. Dabei handelt es sich um ein Linsenbrot. Man erkennt die „Cracker“ deutlich. Um die Linsen allerdings, gibt es eine schöne Begebenheit.

Auf den mageren und steinigen Böden der Schwäbischen Alb gedeihte früher nicht sehr viel. Die Linsen fühlten sich jedoch dort recht wohl. So entwickelte sich die Alb zu einem Hauptanbaugebiet für Linsen in Deutschland bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die Alblinse, im Dialekt „Albleisa“ genannt wurde etwa Mitte der 1950er Jahre von billigerer Importware verdrängt und verschwand. Irgendwann gar galt das Saatgut als verschollen. Doch die Originalsorte wurde wiederentdeckt. Nicht auf der Alb, wie man meinen könnte, sondern im Nationalmuseum von St.Petersburg. Seit 2006 wird die Linse erneut auf der Schwäbischen Alb rekultiviert.

Time Steps:

Auf eine Besonderheit dieses Menüs habe ich anfangs schon hingewiesen.Nun möchte ich das konkretisieren. In jedem Gang gibt es einen Bestandteil, der sich im nächsten Gang wiederholt. Damit Sie jetzt nicht rätseln müssen, helfe ich Ihnen.

Im ersten und im zweiten Gericht finden wir Buchweizen. Gericht zwei und drei teilen sich die Steckrübe. Weiter geht es mit Saibling, dann Rind, es folgt Zitrone, danach Schwarzkohl und dann Kürbis. Na, verwirrt?

Auster, Sanddorn, Spirulina, Buchweizen, Koji

Besonders geschmackvoll war die Vinaigrette von gerösteten Zwiebeln und Austernsaft. 

Muschel, Steckrübe, Buchweizen, Yuzu

Optisch ähnelte das Gericht einem Taco. Die leicht rauchigen Noten fand ich besonders gut. Verarbeitet wurden u.a. Miesmuscheln und Schwertmuscheln mit frischen Kräutern. Eine wahre Geschmackswucht.

Saibling, Steckrübe, Lardo, Senf (0. Abb.)

Ein aromatisches Steckrübendashi wurde angegossen. Dazu gab es Enokipilze. Insgesamt recht pilzig-krautig im Geschmack. Der Sud war hervorragend.

Rind, Saiblingskaviar, Fichte, Klee

Rindertatar wurde mariniert und kurz scharf angebratenRotweinessigpulver und verbrannter Lauch kamen hinzu. Sehr schöne Raucharomen und Saiblingskaviar, der im Mund wunderbar aufploppte. Ich hoffe, Sie wissen was ich meine.

Affenkopfpilz, Blaubeere, Zitrone, Rind

In der Pfanne gegart und von einem reduzierten Rinderfond begleitet, bekam das Gericht ein ausgezeichnetes Aroma. Hinzu kamen eine leichte Beurre blanc, Bronzefenchel und Schafsgarbe sowie fermentierte Blaubeeren als Gel. Texturell etwas gummiartig, geschmacklich ganz großes Kino.

Schwarzwurzel, Meerrettich, Schwarzkohl, Zitrone  (o.Abb.)

Schwarzwurzeleis, Meerrettichbaiser, geriebener Meerrettich, Hanföl, Granatapfelsirup und etwas Schwarzkohlzitronensaft waren die wesentlichen Bestandteile dieser Kombination.

Hirsch, Kürbis, Schwarzkohl, Mandarine

Hirschrücken, Haselnusscreme, Hokkaidokürbis, Mandarinenvinaigrette. Wow. 

Kürbis, Chili, Basilikum (o.Abb.)

Chilieis.

„time steps“

Bierschaum, Dinkel, Ahornsirup, Espuma, Schokolade mit flüssigem Kern, und einige Sphären. Das Dessert kombinierte fast alle Bestandteile, die im Menü verarbeitet wurden. Es sollte sozusagen spiegeln und abrunden. 

Wein und Service:

Den Wein haben wir uns selbst ausgesucht. Unsere Wahl fiel auf einen 2011er Chablis von Vincent Dauvissat. 

Der Service war freundlich und beantwortete geduldig alle unsere Fragen. Man bekam das Gefühl, dass der Abend dem Service ebenso gefiel wie uns.

Fazit:

Evgeny Vikentev steht für eine innovative und avantgardistische Küche mit sehr ausgefeiltem Handwerk. Im Zentrum der Gerichte stehen jeweils regionale Produkte, die allerdings weltoffen entwickelt werden. Hinzu kommt eine die Vorfreude steigernde malerische Optik. Alle Sinne anzusprechen, scheint mir die zentrale Botschaft zu sein.

Unerfahrene Esser mögen mit den Geschmacksbildern und der ansprechenden Anrichteweise hinreichend versorgt sein. Richtig Spaß macht es aber erst, wenn man sich auf die Gerichte einlässt, die Motivation versteht, die Entwicklung der Gerichte anschaulich erklärt bekommt und in der Lage ist die Kreativität und Stilistik einzuordnen.

Die Restaurantführer in Deutschland werden bei der Beurteilung sicher herausgefordert. Auf deren Bewertungen darf man durchaus gespannt sein.

Bleibt noch zu erwähnen, dass Evgenys Frage nach dem Gericht das mir am besten geschmeckt hat unbeantwortet bleiben musste. Ein sehr ausgewogenes, sehr harmonisches Menü auf insgesamt hohem Niveau kennt keinen Einzelsieger.



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