500 Jahre Bier gebraut nach Reinheitsgebot: Professor Thomas Becker vom Lehrstuhl für Brau- und Getränketechnologie der Technischen Universität München (TUM) im Interview.
TUM: Lediglich vier Zutaten sind laut Reinheitsgebot zugelassen, dennoch gibt es allein in Deutschland über 3500 verschiedene Biersorten – wie ist das möglich?
Professor Thomas Becker: Das ist nicht unüblich bei Lebensmitteln. Vergleichbar wenige Zutaten braucht es bei Milch-, Nudel- oder Brotprodukten. Nur existiert dafür nichts Vergleichbares wie das Reinheitsgebot. Was Bier betrifft, so können Sie relativ schnell ausrechnen, wie viele Varianten aus hundert Malzsorten, 200 Hopfentypen und 200 Hefearten entstehen können. Daneben haben Sie an vielen Stellen im Brauprozess die Möglichkeit, die Parameter zu verändern – ob das die Temperatur oder der Zeitverlauf ist – und kommen so rechnerisch zu Millionen von Möglichkeiten. Ob das Sinn macht und die vielen Varianten schmecken würden, ist wiederum eine ganz andere Frage.
TUM: Weltweit wird vermutlich zu 90 Prozent das so genannte Lagerbier getrunken und Bierkritiker behaupten, es schmecke überall gleich. Derzeit werden beispielsweise von rund 200 Hefesorten nur rund zehn bis elf verwendet. Forschen Sie an Ihrer Fakultät denn an der Verwendung seltener Hefen?
T. B.: Seit einigen Jahren gibt es einen Megatrend bei Verbrauchern und das unabhängig vom Produktgenre: Es geht um Individualisierung und Personalisierung. Heute wollen alle etwas Spezielles haben! In der Brauwissenschaft wird auch deshalb mehr und mehr geforscht, wie neue Aromen und Geschmacksnuancen erzielt werden können. Ich kann das Bieraroma über Rohstoffe wie Malz oder Hopfen beeinflussen, ich kann das ebenfalls über den Prozess oder auch die Hefe. Wenn ich Hefen habe, die ein neues Aromaspektrum generieren, besteht die Chance mein Bier in signifikantem Ausmaß zu verändern. Nur wurde das in den vergangenen hundert Jahren aus Angst vor Überraschungen ungern getan. Nun aber ist ein Zeitalter angebrochen, in dem wir die analytischen und prozesstechnischen Möglichkeiten haben, Hefe besser steuern und kontrollieren zu können. Darum arbeiten wir sehr intensiv daran, verschiedene Hefesorten daraufhin zu screenen, welche Endeigenschaften sie im Produkt erzielen.
TUM: Stimmt es, dass Mitarbeiter oder Doktoranden Ihres Lehrstuhles in still gelegte Bierkeller gehen und Abstriche nehmen, um alte Hefestämme zu finden?
T. B.: Auch das, ja! Wir arbeiten an zwei Projekten, wo Hefestämme aus Zentralafrika gescreent werden. Wir untersuchen dort die heimischen Produkte, die mit wilden Hefen und gänzlich anderen Stämmen fermentiert sind. Neuerdings nehmen wir uns ebenso Hefen aus Asien vor und schauen, welche Aromen diese erzeugen. Was im weiteren Prozess eine Rolle spielt, ist die Interaktion der Hefen mit dem Hopfen oder Malz. Ganz am Ende jedoch müssen wir mittels der Prozesstechnik die Hefe so steuern können, dass wir nicht überrascht werden vom Endergebnis. Das Ziel sind reproduzierbare Prozesse, die immer dasselbe gute Produkt liefern.
TUM: Wie viele Stoffe sind heutzutage denn tatsächlich in einem handelsüblichen Bier?
T. B.: Die Naturprodukte Malz, Hopfen und Hefe bringen eine Vielzahl von Stoffen ins Bier, deren Vielfalt sowohl in der Definition als auch Konzentration über den Prozessverlauf noch gesteigert wird. Die meisten davon gelangen dabei ins Endprodukt Bier. Welche davon eigenschaftsbestimmend sind, ist bisher immer noch nicht geklärt und Gegenstand aktueller Forschungen.
TUM: Wie sieht das Reinheitsgebot im Kontext der Europäischen Gesetzgebung aus?
T. B.: Die Definition, was Bier ist, regelt die europäische Kennzeichnungsverordnung für Lebensmittel, die stark ans Reinheitsgebot angelehnt ist. Nach der können Sie Bier brauen und anders als etwa in Bayern E-Nummern dazu geben, die sie dann deklarieren müssen – das kauft halt kaum einer. Das einzige Problem ist doch der Ordnungsrahmen, der momentan nicht lückenlos definiert ist. Will heißen: Es gibt Bier nach Reinheitsgebot. Es gibt Bier nach EU-Richtlinien. Doch was ist mit Produkten, bei denen andere natürliche Rohstoffe eingesetzt werden? Sie dürfen das bereits heute herstellen und im Markt platzieren. Aber Sie dürfen nicht Bier dazu sagen. Außerhalb Bayerns gibt es deshalb die Kennzeichnung ‚besondere Biere‘.
TUM: Gibt es denn Forschungsprojekte an der TUM zum Reinheitsgebot?
T. B.: Das Reinheitsgebot ist im nationalen Kontext eine Rahmenbedingung unter der wir arbeiten. Gestatten Sie mir einen Vergleich: Alle Forschungen um Automobile laufen unter der Bedingung, dass Autos am Ende fahren müssen. Die Fahrtauglichkeit ist folglich das Reinheitsgebot der Autoindustrie. Das bedingt die Kreativität, den Innovationsgedanken und Einsatz neuer Technologien oder Methoden nur mittelbar. In jedem Fall wirkt es weder einschränkend noch verhindernd. Im internationalen Umfeld bewegen wir uns in einem anderen Ordnungsrahmen.
TUM: Brauchen wir das Gebot denn heute überhaupt noch?
T. B.: Stellt sich diese Frage wirklich? Für mich als Wissenschaftler stellt sie sich nicht so. Klar, es muss der Ordnungsrahmen bekannt sein, in dem wir unsere wissenschaftlichen Arbeiten verfassen. Aber hierbei ist das Gebot eher Randbedingung. Aus der aktuellen Verbrauchersicht wiederum ist das Gesetz wohl aktueller denn je. Verbraucher wünschen – mit großem Nachdruck – bei Lebensmitteln Purismus und weitreichende Naturbelassenheit sowie keine Zusatzstoffe. Das Reinheitsgebot ist ein Garant dafür. Nicht zuletzt deswegen ist seine Akzeptanz so hoch. Sicherlich können Sie die ein oder andre Biereigenschaft über Zusatzstoffe herbeiführen. Oder aber der Braumeister beherrscht die Klaviatur des Brauprozesses so, dass er diese Eigenschaften ohne Hilfsmittel erreicht. Ich persönlich sehe darin weit mehr den kulturhistorischen Wert des Reinheitsgebots und weniger darin, ob es exakt drei oder vier Rohstoffe sind.
TUM: Was sind die bahnbrechenden Fortschritte der Bierforschung?
T. B.: Das Bahnbrechendste überhaupt war die Entdeckung der Hefe. Die nächste wichtige Entwicklung war die von Linde: die Kältemaschine. Damit wurde es überhaupt erst möglich Bier so herzustellen, wie wir es heute kennen. Dann waren es die über die IT und Automationstechnik entstandenen neuen Möglichkeiten der Produktionsabläufe. Aktuell wiederum versuchen wir die Grundgedanken der Industrie-4.0-Konzepte in Brauprozesse zu integrieren.
TUM: Was ist Ihr Ausblick für die Bierwissenschaft?
T. B.: Dieser ist auch an den globalen Herausforderungen angelehnt. Die Bierwissenschaft wird zunehmend eigenschaftsgetrieben von Erwartungen ans Endprodukt in einem reverse-engineering Konzept beeinflusst. Das rüttelt an traditionellen Produktionsschemen und Paradigmen. Im Mittelpunkt steht, welche Biereigenschaft kann ich durch welche Technologie und mit welchem Verfahrenskonzept am Nachhaltigsten erreichen? Ein anderer Aspekt ist sicher, ob die Eigenschaften, die Verbraucher heute vom Bier erwarten, in der bisherigen Form erhalten bleiben oder erweitert werden müssen? Müssen etablierte Getränke und Lebensmittel aus den gleichen Rohstoffen wie bisher erzeugt werden? Muss Bier flüssig sein? Oder erfolgt die finale Fertigstellung über Instantprodukte im privaten Haushalt? Sind die Produktionsschritte so notwendig und in einem sich ändernden Industrieumfeld noch nachhaltig? Können Getränke oder Bier mit weiteren physiologischen Eigenschaften hergestellt werden? Hier sei das Schlagwort ‚Nutraceuticals‘ genannt.
TUM: Neuerdings ist oft die Rede von der Renaissance des Brauens und der Bierkultur – wie
kam es dazu?
T. B.: Früher und heute noch in manchen zentral-afrikanischen Ländern war und ist Bier das einzig sichere Getränk. Wasser war oder ist verdorben, so dass Bier ein Grundnahrungsmittel war und ist. Seit sich diese Situation geändert hat, kam der Wunsch auf, mehr und mehr Genuss zu erfahren – Aromaerlebnisse sind gefragt. Sicherlich ist das getrieben durch den Hype, den die Craftbierszene mit sich brachte. Ähnlich dem Wein wird Bier wieder in einer anderen Wertigkeit und mit einem positiveren Image gesehen. Das ist gut und erweitert die Konsumgewohnheiten von Bier.
TUM: Und welche Rolle spielt noch der Geschmack bei der hochtechnisierten Herstellung eines modernen Getränks?
T. B.: In den vergangenen 30 bis 40 Jahren erwarten wir wie gerade gesagt von Lebensmitteln mehr als nur unsere Grundbedürfnisse zu stillen: Wir erwarten Geschmack und Aroma. Das wird meines Erachtens in einigen Jahren ergänzt durch die Erwartung von Zusatznutzen. Im asiatischen Raum geht es heute schon darum. Kann ein Produkt mich dabei unterstützen, dass ich 120 Jahre alt werde? Das werden wir künftig von Lebensmitteln erwarten.