Kopenhagens Jægersborggade

In dieser Straße scheint alles möglich. In Nummer 50 wird Hafergrütze zum märchenhaften Brei, der ganz Kopenhagen verzaubert. In Nummer 41 wartet ein Kellerrestaurant, dem gerade ein Michelinstern gefühlt in den Schoß fiel. In Nummer 10 gibt es den wahrscheinlich weltbesten Kaffee, in Nummer 47 wird so kunstvoll tätowiert, dass die Rocker einen großen Bogen drum machen. In Nummer 4 schafft eine Architektin ausgefallenen Schmuck, für Nummer 11 stricken Damen aus dem Altersheim Kindermützen mit Kultcharakter.

Die Jægersborggade wäre beim Monopoly aktuell Kopenhagens begehrteste Straße. Alle 20 Meter schießen Miniboutiquen aus dem Souterrain der 350 Meter langen Schlucht sechstöckiger Häuser aus dem späten 19. Jahrhundert. Statt Straßenbäumen schlägt ein Wald schmiedeeisern gerahmter Ladenschilder aus. Rustikale Tische und Bänke stehen auf buckelnden Bürgersteigen. Retrokinderwagen umkurven an die 1.000 geparkte Fahrräder. Anwohner fühlen sich an Berliner Viertel erinnert. Allein, es fehlt der bourgeoise Touch. Die Szene spielt im anrüchigen City-Vorort Nørrebro, der für Drogenhandel, Gangschießereien, Jugendkrawalle und Ethnokonflikte bekannt ist. Und plötzlich ist da aus dem Nichts diese Kreativ-Oase voller Tüftler unterschiedlichster Genres.

In der winzigen Butik und Nähstube „Klædefabrikken“ in Nummer 11 hängen Mädchenkleidchen auf Retroplastikbügeln. Bedruckt sind die karierten Klamotten der Damenschneiderin mit Abbildern von Musikkassetten. Noch schräger sind die gestrickten Mützchen aus den Händen strickender Omas aus einem Altersheim – die Motive sind Beerenobst und stilisierte Ringelreigen. Der Profit wird mit den Strickerinnen geteilt. Gegenüber in der Nummer 4 gibt‘s ein Kommen und Gehen im Schmucklädchen „Ladyfingers“, wo ein halbes Dutzend Designerinnen famose Kreativität an den Tag legt. Eine von ihnen ist Malene Glintborg, der man beim Werkeln zuschauen kann. „Eigentlich bin ich Architektin, aber ich mache mir lieber die Hände schmutzig als zu zeichnen“, lacht sie.

Untypisch geröstete Mitbringsel
Auch wenn die Ladenkonzepte zunächst wie Liebhaber-Inhaberei erscheinen, stecken hinter dem verspielt-lockeren Ambiente meist Profis mit Sendungsbewusstsein. Die sich gegenseitig die Kunden zuspielen. Im „Coffee Collective“ (Nummer 10) wird Kaffeegenuss derart spannend zelebriert, dass man geduldig auf seine Tasse wartet. Inzwischen kann man sich ja gegenüber in der urtümlichen Bäckerei „Meyers Bageri“ des dänischen Gourmetpapstes Claus Meyer eine Öko-Vollkornzimtschnecke in einer dicken braunen Papiertüte holen. Kostet zwar fast drei Euro, ist aber jeden Cent wert.

Danach schaut man wieder dem Kaffeeröster Linus zu, wie er ganz akribisch Bohnen röstet, die allesamt aus direkt gehandelter Ware stammen – einzigartig in Europa, wie Linus stolz vermerkt. Daneben drängeln sich ein paar Barristas, um Mahlwerk, Stempelkannen und Aeropress zu bedienen. Bei der um die Welt reisenden Barrista-Szene ist das dänische Kaffeekollektiv ein Geheimtipp. Was auch für die Bohnenauswahl aus ökologischer Produktion gilt. Der kenianische Kieni ist ein grandioser Genuss aus Beerenaroma und Säure, weshalb Kaffee zum untypischen Mitbringsel wird.

Rettungsaktion der genossenschaftlichen Anwohnergemeinschaft
Retrostil, Anti-Luxuslook und erdige Verknüpfung sind der Trend der Jægersborggade. Die kuschlige Wohnzimmer-Athmosphäre im Kaffee „Retro Nørrebro“ und das fast ideologische Independentambiente in der Musikbar „Musiksmag“, wo sich handcolorierte LPs auf dem Plattenteller drehen, weisen das aus. Genauso wie die kulturell fundierten Tattoos, für die Kenner zum Kanadier Colin Dale im „Skin&Bone“ anreisen. Aber wie kommt es zu derart professioneller Nischenkultur in einer Straße, die gestern noch im Griff hartgesottener Kriminalität war? Es lohnt sich, den Koch Christian F. Puglisi dazu zu befragen.

„Kreative Energie und Weitsicht der Anwohner haben die Jægersborggade total verändert“, sagt der Däne mit sizilianischen Wurzeln. Was manchem nach Ökoschick und üblicher Gentrifizierung schmecken, ist aber laut Puglisi eine Rettungsaktion der genossenschaftlichen Anwohnergemeinschaft, die sich an den Haaren aus dem Sumpf zog. Zu Beginn versperrten noch die Platzhirsche Nørrebros, die Hell‘s Angels, den Weg, wenn man in sein neues Restaurant heruntersteigen wollte, und noch vor Monaten waren Drogendealer hier platziert, inzwischen sind sie aber in den Park vor dem Nordeingang der Straße abgedrängt worden. Obwohl immer noch einige Ladeninhaber den Mythos der vereinzelt ansässigen Rocker als Paten der Straße beschwören.

Schubladen für Speisekarte und Besteck

Puglisi hat zwar im Kopenhagener Weltklasse-Restaurant Noma gearbeitet, ihm war aber mehr nach einer Viertagewoche plus Gourmetküche ohne Schickimicki auf dem Teller. „Wir sind hier sehr locker, down-to-earth, eben dänisch“, meint er. Bezahlbar sollte es sein (Viergängemenü für 47 Euro), zubereitet mit einer hektisch-elektrischen Energie mit bis zu sechs Souchefs – deshalb der Name „Relæ“. Begonnen hat alles mit der Weinbar „Manfred‘s vis-a-vis“, wo der Biowein französischer Edelwinzer neben erschwinglichen Tagesgerichten die Hauptrolle spielt.

Nur 40 Gäste haben Platz an den kleinen Tischen des „Relæ“ mit Schubladen für Karte und Besteck, nur zwei Mann bedienen in der Enge des des typischen Souterrains. Anfang 2012 dann die Sensation: Puglisi bekam für seinen kaum am angesagten Dogma der Nordischen Küche ausgerichteten Kochstil – er benutzt statt des nordischen Rapsöls doch Olivenöl – einen Michelinstern, einen von sagenhaften 14 in Kopenhagen.

Hafergrütze als Gourmetbrei
Weil die 400 Wohnungen der Jægersborggade fast komplett in der Hand der Anwohnergenossenschaft sind, kann man sich die Ladenbesitzer aussuchen. Ein Glücksfall, der allerdings die Wohnungspreise nicht vor dem Explodieren schützt, was einige Anwohner verärgert. Ob nun Glück oder Unglück, es ist eine einzigartige Mischung aus Minilädchen entstanden, die jeden Traum erfüllt. Auch den des 25jährigen Lasse Skjønning Andersen, der die 15 Quadratmeter-Bar „Grød“ eröffnete, in der er selbst am Herd steht und Porridge kocht.

Wie bitte, Hafergrütze als Gourmetbrei? Man glaubt‘s kaum, denkt vielleicht an das Märchen des unweit von hier begrabenen Hans-Christian-Andersen der in „Des Kaisers neue Kleider“ von einer märchenhaften Massenhypnose erzählt. Aber Lasse bleibt cool und meint nur, dass man in der ganzen Welt irgendeinen Brei isst. Der asiatische Reisbrei Congee etwa steht bei Lasse auf dem jahreszeitlich angepassten Menü. Der Anwohnerrat der Jægersborggade hat jedenfalls angebissen, als Lasse seine Grützbar-Idee vorstellte. Grød mit in Möhrensaft gekochten, demeter-kontrollierten Getreideflocken mit Rosinen und Ingwersirup gefällig?

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