Zwischen (Er-)Kenntnis und Kommunikation
Der Mensch und Verbraucher neigt – zumindest hierzulande – gerne und oft zum guten alten Schwarz-Weiß-Denken. Das ist nicht per se schlecht, da im Informationszeitalter nur noch wenige Nachrichten, Mitteilungen oder Kenntnisse aus rein quantitativen Gründen nicht mehr in Gänze beleuchtet werden können. In der Soziologie wird daher seit Jahren diskutiert, ob aus einem Informationsüberfluss eine Wissensknappheit resultiert. Die Kommunikationsforschung interessiert dagegen, wie der Mensch mit widersprüchlichen Meldungen umgeht und was die Konsequenzen sind. Zu abstrakt? Dann sei hier nur ein Beispiel aus der Presse stellvertretend genannt: Zeitungsüberschriften zu Schokolade.
„So lange dauert es, Kalorienbomben abzutrainieren…“ (bild.de, 19.12.2011) und „Dunkle Schokolade gut fürs Herz, von wegen Naschen ist ungesund…“ (stern.de, 12.12.2011). Einmal also Schokolade als Kalorienbombe, ein anderes Mal als Gesundmacher. Was ist nun richtig? Und wie kann ich als Leser diese kontroversen Schlagzeilen einordnen?
Wie so oft, kommt es beim geschriebenen Wort auf die Betrachtungsweise an. Hat die Bild-Redaktion mehr den Energiegehalt der Schokolade im Blick, betrachtet die Online-Redaktion des Stern lediglich einen Inhaltsstoff (in diesem Falle die sekundären Pflanzenstoffe Flavonole). Und wer hat nun Recht? Beide. Und trotzdem ist der Leser verunsichert, sollte er beide Artikel gelesen haben.
Diese nur scheinbar diametralen Aussagen kommen aus der Ernährungs- und Lebensmittelforschung. Und genau dort wird seit einiger Zeit genau diese Außenwirkung diskutiert. Das Bundesforschungsministerium hat eine Studie in Auftrag gegeben zum „Innovationssektor Lebensmittel und Ernährung“, durchgeführt vom Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung (IVV) und vom Lehrstuhl für Ernährungsphysiologie in Weihenstephan.
Was auf den ersten Blick vielleicht nicht neu klingt ist eine Art Revolution. Eine Revolution aller Wissenschaftler und Praktiker aus dem Ernährungssektor. Denn zum ersten Mal trafen sich Experten aus allen Bereichen der Forschung und diskutierten über die Herausforderungen der Zukunft an ihre Arbeit. Und erstaunlicherweise ist die Einigkeit der verschiedenen Fachbereiche groß: „In der Ernährungsforschung müssen wir weg von der Reduktion auf die Einzelsubstanz eines Lebensmittels“, sagte Professor Gerhard Rechkemmer, Präsident des Max-Rubner-Instituts auf einer Tagung in Weihenstephan im Dezember 2011.
„Auch wenn die Komplexität zunimmt, können wir uns nicht auf das einzelne Anthocyan (Pflanzenfarbstoff, Anm. d. Red.) konzentrieren. Viel größere Relevanz hat der gesamte Apfel“, so der Leiter des Bundesforschungsinstituts. Die Forschung könnte also in eine ganz andere Richtung gehen. Statt der Betrachtung der Einzelsubstanz, wie in dem Schokoladenbeispiel, sollte bald also die ganze Schokolade im Mittelpunkt des Interesses stehen. Wissenschaftler sprechen da von der „Forschung zum Einfluss von Ernährungsmustern“.
Auch Professor Hans-Georg Joost geht genau in diese Richtung. Der Vorstand des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung hat nach der Veröffentlichung einiger Forschungsergebnisse Kritik am eigenen Leib erfahren müssen. So wies er nach, dass einige Substanzen aus Obst und Gemüse bei bestimmten Arten von Krebs – entgegen anders lautenden Vermutungen – nicht präventiv wirken. Eine wissenschaftlich belegte Tatsache, die aber die Schlagzeile „Obst und Gemüse schützen nicht vor Krebs“ (focus.de, 12.4.2010) provozierte. Ergebnis:
Verbraucherverunsicherung pur. Dass aber ein hoher Obst- und Gemüse-Verzehr Herz-Kreislauferkrankungen und Adipositas vorbeugen, fand sich nirgendwo. Joost kam zu einem einfachen wie zutreffenden Schluss in puncto Verbraucherverhalten: „Gesunde Lebensmittel können nur wirken, wenn sie akzeptiert werden.“
Ob sich die deutsche Forschungslandschaft tatsächlich den Bedürfnissen der Kommunikationsgesellschaft anpasst, werden die nächsten Jahre zeigen. Professor Hannelore Daniel, Direktorin des Zentralinstituts für Ernährungs- und Lebensmittelforschung, Freising sieht in jedem Fall drei klare Handlungsfelder, die sie mit ihren Kollegen ganz konkret und am liebsten sofort umsetzen möchte: „Ein Forschungsfeld ist die Matrix der Lebensmittel. Mit der simplen Fragestellung, was macht das im Körper?“ Inmitten des demografischen Wandels ergebe sich auch das zweite Feld: Geschmacks- und Sättigungsforschung. Die deutsche Bevölkerung wird im Schnitt immer älter und der Geruchs- und Geschmackssinn lassen nach. Dementsprechend haben Ältere weniger Appetit und es kann zu Mangelernährung kommen. Mit entsprechenden Symptomen und verbundenen Kosten. Das letzte große Handlungsfeld sieht auch Daniel in der Konsumentenforschung mit dem Schwerpunkt Konsumentenverhalten.
Man darf gespannt sein, wie die interdisziplinären Vorhaben und Forschungsfelder in Zukunft ausgestaltet werden. Währenddessen kann sich der Verbraucher an die goldene Regel halten: Variantenreich essen, Vieles ausprobieren und auch den Geschmack trotz aller ungesund/gesund-Meldungen nicht aus den Augen verlieren.
Harald Seitz, www.aid.de