Die kulinarische Zeitmaschine
Da standen wir also, nach fröhlichen Stunden in der Terrine, vor dem winterlich verschneiten Tantris – ein erhebendes Gefühl. Wir alle erinnerten uns plötzlich an die faszinierenden Momente unserer Kindheit, als unsere Eltern von ihren ersten Besuchen in der damals noch jungen deutschen Spitzengastronomie erzählten und wir es gar nicht erwarten konnten, endlich selbst einmal in einem solchen Restaurant sitzen zu können. Es waren diese Erzählungen, die unsere kulinarische Sozialisation zunächst theoretisch aber dennoch nachhaltig prägten. Und es war kurz nach jener Zeit, in der eine Generation von Köchen den Michelin erstmals nach Deutschland lockte und im Laufe der folgenden Jahre das Gros der heutigen Spitzenköche auf den Weg brachte.
Hier begann alles: im ersten und von der Farbe rot dominierten Sternerestaurant Deutschlands. Bei den ersten Schritten in diesen heiligen Hallen müssen wir gewirkt haben wie kleine Kinder, die mit offenen Mündern vor dem Disney-Schloss stehen, fasziniert und irritiert zugleich. Man glaubt die gesamte deutsche Gourmethistorie der 1970er spüren zu können. Auf der anderen Seite stellt sich nach einer Weile das Gefühl einer bizarren Zeitreise ein: das gesamte Interieur sieht nach einer behutsamen Renovierung und Restaurierung exakt so aus, wie zur Eröffnung im Jahr 1971. Man muss das nicht mögen, außer Frage steht jedoch, dass es sich bei dem Restaurant um ein Denkmal handelt.
Seit 20 Jahren steht hier Hans Haas am Herd, der das Zepter 1991 von Heinz Winkler übernahm. Und spannend war für uns vor allem die Frage, wie sich seine Küche in die Menüs jüngerer Spitzenköche eingliedern würde, die wir in den Monaten zuvor besucht hatten.
Zunächst serviert der charmant-altmodische Service unter Leitung des formidablen Rakhshan Zhouleh als Amuse Bouche eine Entenleberterrine auf Birne und Brioche. Wirklich überzeugen kann uns das nicht. Die Terrine zu kalt und die Gesamtkomposition etwas arg konservativ und langweilig für einen Lustmacher auf das Kommende. Da helfen auch die modisch geschabten Foie-Gras-Spähne obenauf nicht weiter.
Im Anschluss folgt dann auch schon der erste reguläre Gang des Menüs: Räucheraal in Ciabatta mit eingelegten Senfgurken. An sich eine schöne Kombination mit einem angenehm rustikalen Grundcharakter. Die Gurken sind jedoch zu sauer, zu groß geschnitten und proportioniert, schlichtweg in jeder Hinsicht zu dominant – der Aal wird komplett überlagert, zumal auch das krosse Ciabatta viel zu präsent ist. Schade um die schöne Idee.
Gespannt erwarten wir das nächste Gericht…
…Huchenfilet mit Graupen und Saiblingskaviar. Die sehr gute Produktqualität und die perfekte Garung des Fischs können leider nicht darüber hinwegtrösten, dass man es erneut mit einer äußerst altmodischen – oder sagen wir es ganz direkt: langweiligen Kreation zu tun hat. Der Kaviar ist viel zu mächtig portioniert und die Sauce hinterlässt geschmacklich ebenso wenig Eindruck wie die Graupen, die texturell immerhin eine schöne Melange mit dem Kaviar bilden. Dennoch: Mit dem letzten Bissen hat man dieses Gericht schon wieder vergessen.
Der nachfolgende Gang dann ein erster Lichtblick:
Der Steinbutt mit Eigelb gefüllt, Spinat und weißem Trüffel wird der beste Gang des Abends bleiben. In der Kombination von Ei, Spinat und Trüffel einmal mehr äußerst klassisch, überzeugt dieses Gericht durch eine feine, ausgewogene Aromatik. Nicht zuletzt dank des Trüffels. Der Fisch ist gut gegart, die Eigelb-Füllung zwar altbekannt aber immer noch recht originell und „geschmacksverstärkend“. Die Sauce allerdings einmal mehr ohne Tiefe und aromatische Substanz.
Die kross gebratene Spanferkelbrust mit Blutwurstraviolo und Paprikraut ist von der perfekt krossen Schwarte einmal abgesehen ein 08/15-Gericht, dass man in einem 2*-Restaurant niemals erwarten würde. Das Fleisch von guter Qualität, der Raviolo solide, doch fehlt hier schlicht und einfach ein Element, das den besonderen Kick ausmacht. Das Paprikakraut kann es jedenfalls nicht sein, war es für unseren Geschmack doch eindeutig zu weich. Die Sauce auch nicht, die war wie gehabt langweilig. Dass gerade in einem so „klassisch“ oder „traditionell“ ausgerichteten Restaurant derart belanglose Saucen serviert werden, ist die vielleicht größte Enttäuschung dieses Abends.
Als finalen Fleischgang lässt Hans Haas geschmorte Schulter und rosa gebratene Keule vom Milchlamm mit Kartoffel-Bohnengemüse servieren. Das Tranchieren des Fleisches am Tisch ist beeindruckend: wo bekommt man so etwas heute noch geboten? Es ist ein Genuss, den Herren vom Service beim fachmännischen Zerlegen der Stücke zuzusehen. Was dann allerdings auf den Teller kommt ist: 2 Stücke Lammfleisch mit Kartoffeln und Bohnen. Alles durchaus schmackhaft – aber eher ein gutbürgerliches Sonntagsessen als ein Hauptgang in einem 2*-Restaurant des Jahres 2010.
Die Nachspeise des Abends besteht aus einem Lebkuchensoufflée mit Mohnmousse, Zimteis und eingelegten Kirschen. Ein perfektes Dessert – für das Jahr 1978. Soufflée, Eis und Kirschen finden sich so (oder sehr ähnlich) bereits in Eckart Witzigmanns „Tantris“-Kochbuch aus ebendiesem Jahr. Für die passende Mohnmousse muss man lediglich sein klassisches Dessertbuch aufschlagen. Auch die Präsentation wirkt wie aus dieser Ära. Nicht dass es „schlecht“ schmeckt – es mutet lediglich bieder und langweilig an.
Die Petit Fours waren gelungen, konnten den grundsätzlichen Eindruck des Abends allerdings nicht mehr korrigieren.
Nach diesem Menü wurde uns klar, dass wir nicht nur architektonisch, sondern auch kulinarisch eine Zeitreise unternommen hatten. Im Tantris ist ein Gericht noch ein voller Teller und ein großes Menü eine fixe Abfolge von sechs bis sieben Gängen. Dies muss grundsätzlich ebenso wenig ein Fehler sein, wie das Beharren auf klassischen Kreationen. Dennoch darf man in einem Restaurant dieser Klasse erwarten, dass die Zeichen der Zeit nicht völlig an der Küche vorübergehen.
Möglicherweise liegt die Crux auch woanders. Fast alle Gerichte, die uns an diesem Abend präsentiert wurden, waren so konzipiert, dass Sie mit wenigen Handgriffen angerichtet werden konnten. Wir wurden uns im Verlauf des Essens immer stärker der Tatsache bewusst, dass dieser Produktionscharakter deutlichen Einfluss auf die Kreativität hat. Wir jedenfalls fühlten uns bisweilen eher wie bei einem sehr guten Bankett als in einem deutschen Spitzenrestaurant. Kein Wunder: Auf Nachfrage erzählte man uns nicht ohne Stolz, dass die Küche mittags 107 und abends 110 Gäste bedient hätte. Mengen, wie wir sie in noch keinem deutschsprachigen Sternerestaurant erlebt haben. Und doch kann es funktionieren, wie etwa die ehrwürdige Auberge de L’ill mit ihren 100 Plätzen beweist – und die im Übrigen auch zeigt, dass Tradition noch lange nicht gleichbedeutend mit Langeweile ist.
A propos ehrwürdig. Auch bei der Weinauswahl bekamen wir es mit einem Denkmal der deutschen Gastronomie zu tun: Paula Bosch. Ein wenig erstarrten da selbst die dreistesten Sternefresser in Ehrfurcht und räumten dieser Ikone ausreichend Platz zur Entfaltung ein – den sie auch gerne nutzte. Ihrer in Stein gemeißelten Sicht der Dinge und Weine zu lauschen ist durchaus faszinierend und interessant, wobei sich das Kredenzen des Weines somit etwas nach hinten verschiebt. Diese Tätigkeit wird Frau Bosch nach jüngsten Entwicklungen übrigens nur noch bis April ausüben, danach wird sie das Tantris aber weiterhin in Weinangelegenheiten beraten.
Angesichts des ausgebuchten Hauses relativieren sich all unsere Kritikpunkte natürlich. Dennoch: Man zehrt im Tantris von den Bewertungen und der Reputation aus besseren Tagen. Es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis dieses Vorgehen nicht mehr vollends aufgeht.
Fazit: Wie lautet ein grandioser Ausspruch des Unternehmers und Gastro-Mäzens Fritz Eichbauer: „Für das Geld, das ich ins Tantris gesteckt habe, hätte ich mir ein Schloss kaufen können. Wo wäre ich dann aber essen gegangen?“. Das Tantris ist ein legendäres Haus – wir würden uns wünschen, dass auch die Küche zu alter Größe zurückfindet.
Profil
Restaurant Tantris
Johann-Fichte-Str. 7
80805 München – Schwabing
+49 (89) 3619590
www.tantris.de
Weinreise
Krug Grand Cuvée
2007 Wallufer Walkenberg Riesling Spätlese trocken, J.B. Becker, Rheingau
2009 Viognier, Tamberscloof, Stellenbosch
2007 Domaine de Horizon rouge, Languedoc
2005 Bricco dell Uccellone, Giacomo Bologna, Piemont
Quelle : Sternefresser.de – per aspera ad astra***