14. Februar 2010: Neujahr in Taiwan
Silvester verpasst? Willkommen im Jahr des Tigers!
Wenngleich man auf Taiwan offiziell bereits vor knapp hundert Jahren die
westliche Zeitrechnung übernommen hat, feiert man auf der Insel – wie in
vielen anderen Teilen Ostasiens – noch heute die Ankunft des neuen Jahres
hauptsächlich nach dem traditionellen Kalender. Dieses ausgedehnte
zweiwöchige Neujahrsfest, geprägt von jahrhundertealten Bräuchen und
Ritualen, übt gerade auch auf Besucher aus anderen Kulturkreisen immer
wieder eine große Faszination aus – der ideale Anlass also für eine Reise
auf die „schöne Insel“, wie Taiwan einst von den Portugiesen getauft wurde.
Gefeiert wird das Neujahrsfest am zweiten Neumond nach der
Wintersonnenwende, der in diesem Jahr zufällig auf den 14. Februar unseres
Gregorianischen Kalenders, also auf den Valentinstag, fällt. An diesem Tag
beginnt in der chinesischen Astrologie das „Jahr des Tigers“. Die
Tierkreiszeichen wechseln im Zwölfjahresrhythmus, so dass alle Menschen, die
vor 12, 24, 36 usw. Jahren zur Welt kamen, im gleichen Zeichen geboren
wurden.
Die Neujahrsfeiern haben ihren Ursprung vermutlich in einem uralten Mythos.
Der Legende nach wurde die Menschheit einst von einem Ungeheuer namens Nian
bedroht, dessen Name „Jahr“ bedeutet und das an jedem ersten Tag eines neuen
Jahres die Ernte, das Vieh und sogar die Menschen fraß. Um es zu
beschwichtigen, stellte man ihm Futter vor die Haustür. Außerdem glaubte
man, das Monstrum fürchte sich vor Feuer, Lärm und der Farbe Rot, und so lag
es nahe, dass man es genau damit fernzuhalten versuchte: mit Feuerwerk und
roten Laternen. Mit der „Vertreibung des Ungeheuers“, guonian, verscheuchte
man zugleich das alte Jahr und hieß das neue – bunt und lärmend –
willkommen. Zu dem Erfolg gratuliert man sich auch heute noch gegenseitig
mit der Formel gong xi – allerdings erst am zweiten Tag.
Vorausgegangen ist den Feiern dann bereits der große „Kehraus“ oder da sao
chu, was man auch als „Frühjahrsputz“ übersetzen könnte. Damit wird nicht
nur das Haus gereinigt, sondern symbolisch fegt man auch alles Unglück des
auslaufenden Jahres vor die Tür. Im Gegenzug werden alle derartigen Arbeiten
an den ersten fünf Tagen des neuen Jahres tunlichst vermieden, um das
neugewonnene Glück nicht versehentlich hinauszufegen. Außerdem deckt man
sich zum Jahresende noch einmal mit neuer Kleidung an, die man dann im neuen
Jahr erstmals trägt.
Unternehmen laden ihre Angestellten häufig zu einem Festessen – genannt
weiya – ein, um das Jahr zu verabschieden, aber auch, um sich zu bedanken.
Dabei handelt es sich um ein üppiges Bankett mit vielen Leckereien, Musik,
Unterhaltung und oft auch einer Tombola. Privat versammeln sich die Menschen
am Vorabend des Neujahrstages – am chu xi – zu einem traditionellen Festmahl
im Kreise der Familie, vergleichbar mit dem Weihnachtsessen in vielen
europäischen Ländern oder dem Thanksgiving Dinner der Amerikaner.
Viele Gepflogenheiten rund ums Essen gehen auf raffinierte Wortspiele
zurück. So verspeist man beispielsweise Fisch – chinesisch yu -, weil das
Wort (trotz abweichender Schreibung) genauso klingt wie yu, was so viel
bedeutet wie „ausreichend haben“: der Fisch symbolisiert also den Überfluss.
Auch der beliebte Schnittknoblauch – jiu cai -, der als Beilage zu Hühnchen
oder Ente als Opfer an die Götter und Vorfahren dient, hat eine solche
Doppelbedeutung, denn jiu heißt „lange während“. Der Klebreiskuchen nian
gao wiederum klingt wie „glückliches Jahr“, und die Süßigkeiten tang guo
bedeuten auch „süßer Anfang“.
Die Farbe Rot spielt, wie schon erwähnt, eine große Rolle beim Neujahrsfest.
An den Häusern hängen daher oft rote Zettel oder Schriftrollen mit kleinen
Reimen oder Schriftzeichen für Wörter wie „Glück“, „Wohlstand“ oder „langes
Leben“. Jüngere Familienmitglieder erhalten von der älteren Generation
Geldgeschenke in roten Umschlägen, genannt hong bao. Manchmal beglückt man
auch Besucher mit solchen Geschenke, wenn sie in einer taiwanischen Familie
zu Gast sind.
Nach dem Essen geht es auf jeden Fall hinaus auf die Straße oder in Parks,
wo man den Jahreswechsel, ähnlich wie in Deutschland, mit Feuerwerk und
Böllern feiert. Doch in Taiwan hat das Ereignis auch stets eine religiöse
Komponente, und so versammeln sich Tausende von Menschen in Tempeln, brennen
Räucherstäbchen ab, beten und bringen den Göttern Opfer in Form von Speisen
und auch von Geldscheinen, die angezündet und verbrannt werden, bevor Schlag
Mitternacht die offizielle Feier beginnt.
Danach legen sich die Taiwaner aber keineswegs schlafen, denn es soll den
älteren Verwandten ein langes Leben bescheren, wenn die Familie die ganze
Nacht über wach bleibt. So vertreibt man sich die Zeit mit Spielen und
Essen. Schließlich ist der Tag, der nun begonnen hat – der chu yi oder Tag 1
des neuen Jahres – in Taiwan ein offizieller Feiertag, an dem nahezu alle
Geschäfte und Büros geschlossen bleiben. Er ist der entfernteren
Verwandtschaft vorbehalten, wobei üblicherweise jüngere Menschen ihre
älteren Angehörigen besuchen. In vielen Fällen bedeutet dies für die Städter
einen Besuch auf dem Lande, weshalb die Innenstädte am Neujahrstag oft
verlassen und die Ausfallstraßen umso belebter wirken. Am zweiten Tag des
neuen Jahres, chu er, besuchen verheiratete Töchter dann ihr Elternhaus.
Offiziell dauert die Feier des neuen Jahres ganze fünfzehn Tage, doch die
Wirtschaft kann es sich nicht leisten, volle zwei Wochen zu ruhen. So öffnen
Schulen und Geschäfte nach einer Woche, und die meisten Menschen nehmen ihre
Arbeit wieder auf. Am Abschluss der Neujahrsfeierlichkeiten steht jedoch
noch einmal ein Höhepunkt: das Frühlings- oder Laternenfest, yuan xiao jie.
Abends ziehen die Kinder – ähnlich wie am deutschen Martinstag – mit
Laternen durch die Straßen, doch auch die Kommunen sorgen in dieser Nacht
für bunte Unterhaltung mit diversen Veranstaltungen, an denen sich die
Einheimischen ebenso erfreuen wie die Besucher Taiwans.