Unterwegs auf den Spuren der Hakka
Ehrentitel „Alte Straße“: Nostalgische Touren im Nordwesten Taiwans
In einem Land, in dem man dem Alter noch mit Respekt begegnet, ist auch
„Alte Straße“ eine ehrwürdige Bezeichnung. Auf Taiwan handelt es sich dabei
nämlich um liebevoll restaurierte Straßen mit historischen Gebäuden und viel
Tradition, die jeden Nostalgiker ins Schwärmen bringen. Die Besucher Taiwans
können sich hier ein Bild davon machen, wie es auf der „schönen Insel“
Ostasiens vor langer Zeit aussah. Ein Tagesausflug ab Taipeh wird so zu
einer Reise in die faszinierende und vielen Europäern kaum bekannte
Geschichte des Hakka-Volkes.
Vor dreißig oder vierzig Jahren verstand man auch auf Taiwan wie im Rest der
Welt unter „alt“ häufig „veraltet“ und unter Fortschritt, dass man das Alte
durch Neues und Modernes ersetzen musste – was zwar technischen Fortschritt
und meist auch eine Verbesserung der Lebensqualität brachte, aber nicht
immer einen ästhetischen Gewinn. Heutzutage geht man auf Taiwan einfühlsamer
an notwendige Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen heran.
Asphaltierte Straßen erhalten wieder ihr Kopfsteinpflaster, und
Häuserfassaden werden sorgfältig gereinigt und ausgebessert, möglichst im
ursprünglichen Baustill. Dort, wo sie im Laufe der Jahre durch
unkoordinierte Modernisierung verunstaltet wurden – etwa durch Leitungen,
Wassertanks, Klimaanlagen oder Satellitenschüsseln – findet man Lösungen,
die Technik zu verbergen, ohne dass die Bewohner der Häuser auf viele
Annehmlichkeiten verzichten müssten.
Auszeichnung und Hinweis für Touristen: „Alte Straße“
Inzwischen gibt es in vielen Städten Taiwans Straßen, die den Namen „Alte
Straße“ als Ehrentitel tragen. Nanjhuang und Beipu im nordwestlichen
Binnenland besitzen recht bekannte „Alte Straßen“. Die beiden Kleinstädte
liegen in den Landkreisen Miaoli bzw. Hsinchu, rund eine Autostunde
südwestlich der Hauptstadt Taipeh. Dank ihrer abgeschiedenen Lage am Rande
der Berge haben die beiden Städtchen viel von ihrem vorindustriellen Charme
gewahrt. Zudem liegen sie in einer besonders reizvollen Umgebung. In der
Nähe Nanjhuangs findet man zahlreicher Dörfer der Ureinwohner Taiwans sowie
die historischen Tempel des Löwenkopfberges, und im Hinterland von Beipu,
wie auch in der Stadt selbst, leben vorwiegend Hakka, eine der acht
Volksgruppen der Han-Chinesen mit eigener Sprache und eigenen Sitten und
Gebräuchen. Wer mit einem Mietauto unterwegs ist, kann beide Städte an einem
Tag besichtigen, doch wer es sich leisten kann, sollte sich durchaus etwas
mehr Zeit nehmen.
In Nanjhuang entdeckt man in der schmalen, ausschließlich Fußgängern
vorbehaltenen Alten Straße viele Geschäfte und Restaurants, die auch für
Touristen von Interesse sind. Am Südende der Straße, gegenüber dem
Besucherinformationsbüro, kann man sich leicht im Geiste in vergangene
Zeiten zurückversetzen lassen. Hier gibt es nämlich einen alten öffentlichen
Waschplatz, an dem klares Bergwasser in eine große Wanne geleitet wird und
unbehauene Steinplatten als Waschbretter dienen. Sogar heute noch nutzen
einige Bewohner diese Einrichtung, um ihre Wäsche zu reinigen. Darüber
befindet sich übrigens ein kleiner Schrein zu Ehren der Erdgottheit, die von
den Bewohnern dieser Gegend Bogong genannt wird.
Am Nordende der Alten Straße gibt es zwei Sehenswürdigkeiten zu bestaunen:
den Yongchang-Tempel, das größte Gotteshaus Nanjhuangs, und das über hundert
Jahre alte Postamt, das vor einigen Jahren gründlich renoviert und in einen
Kultursaal verwandelt wurde. Das eingeschossige Holzgebäude ist typisch für
seine Entstehungszeit.
Eiscreme für Präsidenten und andere Besucher
Die meisten Gebäude an dieser Straße sind mehr als ein halbes Jahrhundert
alt. Das erste Stockwerk besteht meist aus Beton, das zweite aus Holz, das
in dieser baumreichen Region reichlich vorhanden ist. Einer der
interessantesten Anlieger dürfte die Yongliang-Eiscremefabrik mit der
Hausnummer 47 sein. Hier wird noch heute Eis am Stil wie vor fünfzig Jahren
hergestellt, und sogar ehemalige Staatspräsidenten und Vizepräsidenten
zählen zur Kundschaft, wie die Fotos an den Wänden beweisen.
Eiscreme dürfte allen Besuchern noch eine vertraute Leckerei sein, doch als
Ausländer wird man sich über viele der Imbisse wundern, die entlang der
Alten Straße feilgeboten werden. Sie sind meist nur chinesisch beschriftet,
und auch die Händler verstehen nur selten eine europäische Sprache. Die
einfachste Lösung heißt hier: Probieren geht über Studieren. Passanten
bietet man nämlich meist kleine Häppchen zum Kosten an – ganz ohne
Kaufverpflichtung. Aber auch auf dem kleinen Markt, der von sechs Uhr früh
bis kurz nach Mittag geöffnet ist, kann man den Hunger stillen. In den
beiden Restaurants dort gibt es sogar bis zum Abend leckere einheimische
Hakka-Spezialitäten.
Wenn man über die Miaoli-Landstraße 124 aus Nanjhuang herausfährt, gelangt
man bald nach Penglai und in das benachbarte Naturreservat, das reich an
Fischen und Libellen ist. Der beste Monat, um die Glühwürmchen dort fliegen
zu sehen, ist der April, während im August der Schmetterlingsflug seinen
Höhepunkt erreicht.
„Erdebeerhauptstadt“ Taiwans
Hinter Penglai liegt eine atemberaubende Berglandschaft. Dort, wo die
Landstraße auf die Provinzschnellstraße 3 trifft, kann man südwärts
abbiegen, um Dahu, die „Erdebeerhauptstadt“ Taiwans zu erreichen. Fährt man
auf der gleichen Straße nach Norden, gelangt man in das bereits erwähnte
Beipu. Während der japanischen Besatzungszeit (1895-1945) wurde in dieser
Gegend Kohle gefördert, und die Bergleute vergnügten sich nach ihrer harten
Arbeit in den Kneipen der 1835 gegründeten Stadt, die noch viel vom Charme
ihrer Gründerzeit bewahrt hat.
Um die Stadt zu Fuß zu erkunden, kann man am Citian-Tempel beginnen, einem
einfachen Schrein, in dem unter anderem Gottheiten wie Guanyin, die
buddhistische Göttin der Gnade, und die „Könige der drei Berge“ verehrt
werden. Die Alte Straße von Beipu läuft direkt auf die Vorderseite des
Tempels zu. Kein Gebäude gleicht hier dem anderen, jedes hat seinen eigenen
Charakter, und man sieht ihm an, dass es eine abwechslungsreiche Geschichte
durchlebt hat. Tatsächlich gibt es einige der Geschäfte und Restaurants in
dieser Straße schon seit hundert Jahren und mehr – auch wenn der Besitzer
der „Hundertjährigen Hakka-Küche“, einem Restaurant mit der Hausnummer 23,
augenzwinkernd eingesteht, dass ihm eigentlich noch ein oder zwei Jahre
fehlen, bis das Jahrhundert voll ist.
Die beeindruckendsten Privathäuser der Stadt findet man in der
Miaoqian-Straße, was wörtlich übersetzt „Straße vor dem Tempel“ bedeutet. Am
bekanntesten ist die Jinguangfu-Halle, die bereits 1835 als Verwaltungssitz
gebaut wurde. Sie steht unter dem Denkmalschutz der höchsten Stufe – eine
Ehre, die sie mit weniger als vierzig Baudenkmälern auf der gesamten Insel
teilt. Zusammen mit zwei anderen sehenswerten Gebäuden – dem Tianshuitang
und der Jiang-A-xin-Villa – ist sie noch immer im Besitz der Nachfahren des
Stadtgründers, Jiang Xiu-luan (1783-1846).
Verblüffend einfache „Alarmanlagen“
Die Pioniere, die sich im 19. Jahrhundert in der Stadt ansiedelten, hatten
sich übrigens eine interessante – und verblüffend einfache – „Alarmanlage“
ausgedacht, um sich vor unliebsamen Besuchern zu schützen: Die Straßen waren
mit Steinplatten befestigt, von denen einige bewusst so lose verlegt waren,
dass sie ein lautes Geräusch verursachten, sobald man sie betrat. Die
Einheimischen wussten genau, welche Platten sie umgehen mussten, während
sich Fremde, die sich heimlich in die Stadt schleichen wollten, früher oder
später durch das Betreten einer solchen Platte verrieten. Doch keine Angst:
Die von Unruhen und Auseinandersetzungen geprägten Pioniertage sind im
„Wilden Osten“ ebenso vorbei wie im „Wilden Westen“ – heute sind
friedliebende Besucher aus aller Welt in der Stadt herzlich willkommen.
Ein paar Minuten außerhalb von Beipu wartet noch eine weitere Attraktion: Im
Unterschied zu den weit über hundert heißen Quellen auf Taiwan, in denen die
Wassertemperatur meist um die 40 °C liegt, gibt es in hier eine kalte
Quelle, deren Temperatur nur zwischen – im heißen Sommer durchaus
angenehmen – 10 und 15 Grad schwankt. Sie soll bei Magenbeschwerden,
Gelenkentzündungen und Gicht helfen. Der Weg zur sieben Kilometer entfernten
Quelle in den Bergen ist von der Innenstadt aus in chinesischer und
englischer Sprache ausgeschildert.
Für alle, die mehr als einen Tag in dieser schönen und sehenswerten Gegend
verbringen möchten, empfiehlt sich die Übernachtung bei einer Gastfamilie,
in einem sogenannten minsu. Hier hat man intensiven Kontakt zur
einheimischen Bevölkerung und lernt die Besonderheiten der Hakka-Kultur noch
besser kennen.