100 Jahre MICHELIN-Führer Deutschland:
1970–1990: Boom der Sterne
Der Hotel- und Gastronomieführer begleitet
den Aufstieg Deutschlands zum Gourmet-Land
Zwischen 1970 und 1990 gelingt der deutschen Gastronomie der
internationale Durchbruch. Bereits 1970 listet der MICHELINFührer
189 Restaurants mit einem Stern. Noch höhere Wertungen
erreicht in Deutschland allerdings kein Haus. Zehn Jahre später
wird das erste Restaurant in Deutschland mit drei Sternen
ausgezeichnet, zwei Jahre später folgen zwei weitere 3-Sterne-
Häuser. 1990 empfehlen die Michelin Inspektoren drei Restaurants
mit drei Sternen, 14 Adressen mit zwei Sternen und 187 Betriebe
mit einem Stern. Damit hat sich Deutschland als Gourmet-Ziel von
Rang etabliert. Parallel dazu entwickelt sich der MICHELIN-Führer
zum führenden Hotel- und Gastronomieratgeber in Deutschland.
Kulinarischer Aufschwung mit der „Nouvelle Cuisine“
Für Alfred Groß, Michelin Inspektor im Ruhestand, ist dieser
Aufschwung zu internationaler Klasse vor allem mit einem Namen
verbunden: Eckart Witzigmann. Der gebürtige Österreicher ist
Protagonist der kulinarischen Revolution, die in den 1970er-Jahren
unter dem Namen „Nouvelle Cuisine“ von Frankreich aus die
Spitzengastronomie erobert. 1971 wird Witzigmann Chefkoch im
neu eröffneten Münchner Feinschmecker-Tempel „Tantris“. Der
Schüler der 3-Sterne-Köche Paul Bocuse (Lyon) und Paul Haeberlin
(Illhaeusern/Elsass) sorgt im Pop-Art-Ambiente des Hauses mit
seiner strikt französisch orientierten Küche für Aufsehen.
Frische Produkte und „Tellergemälde“
„Die Nouvelle Cuisine stand für leichteres, fettärmeres Essen“,
erinnert sich Groß. „Wichtig war, den möglichst hochwertigen und
marktfrischen Grundprodukten ihren natürlichen Geschmack zu
lassen“, erklärt der gelernte Koch, der 35 Jahre für den Michelin
Reiseverlag als Restauranttester arbeitete. „Hierzu gehörten
verkürzte Garzeiten, der dezente Einsatz von Kräutern und leichtere
Saucen, die nicht mehr über das Fleisch oder den Fisch gegossen,
sondern daneben angerichtet wurden.“ Dies ist auch der schöneren
Optik geschuldet, die ebenfalls zum Markenzeichen der Nouvelle
Cuisine wird. „Es begann die Zeit der Gemälde auf dem Teller“,
blickt Groß auf die kulinarisch bewegten 1970er-Jahre zurück.
Mit der neuen Art zu kochen kommt in den ambitionierten
Restaurants das Ende für Mehlschwitzen, warm gehaltene Beilagen
und vorgefertigte Saucen. Stattdessen wird „à la minute“ gekocht.
Lange Speisekarten treten zugunsten einer kleinen Auswahl an
frisch zubereiteten Gerichten zurück. Die Kochtechniken und das
wichtigste Grundprinzip der Nouvelle Cuisine gelten in der Top-
Gastronomie bis heute: „Spitzenköche lassen den Produkten ihren
Eigengeschmack“, so Michelin Veteran Groß.
Internationalisierung der Essgewohnheiten
Der MICHELIN-Führer Deutschland schreibt in seiner Ausgabe von
1974 zu den kulinarischen Vorlieben des Landes: „Die deutsche
Küche und die deutschen Essgewohnheiten haben … eine merkliche
Wandlung erfahren: Bedingt durch arbeitszeitliche Gründe
und gesundheitliche Rücksichten (Diät etc.), vollzog sich nach und
nach eine Änderung der traditionellen Essgewohnheiten. Zudem
förderten der zunehmende, grenzüberschreitende Reiseverkehr,
das Kennenlernen unbekannter Gerichte und die Weiterentwicklung
der Kühl- und Gefriertechnik eine immer stärkere
,Internationalisierung‘ des Angebots auf deutschen Speisezetteln.“
Mit Blick auf die breite Gastronomie schreibt der MICHELINFührer
1974 freilich auch, dass „Kasseler Rippchen, Gulasch,
Wiener Schnitzel, Deutsches Beefsteak und Eisbein mit Sauerkraut
auf kaum einer Karte fehlen“. Nur wenige Ausgaben später findet
sich dieser Exkurs über die deutsche Küche nicht mehr.
Die ersten 2- und 3-Sterne-Häuser in Deutschland
Deutliches Zeichen für den Aufwärtstrend in der deutschen
Gastronomie: 1974 steigen erstmals sieben Häuser in die 2-Sterne-
Klasse auf, darunter auch das „Tantris“ mit Chefkoch Witzigmann.
Dieser macht sich 1978 in München mit seinem legendären
Restaurant „Aubergine“ selbstständig. Bereits in der 1980er-
Ausgabe des MICHELIN-Führers erkocht er sich als erster Küchenchef
Deutschlands und als dritter Koch außerhalb Frankreichs die
Spitzenwertung von drei Michelin Sternen. Die strikte Orientierung
Witzigmanns an frischen Produkten belegt auch der Eintrag im
MICHELIN-Führer 1980. Statt einer empfohlenen Spezialität steht
hier kurz und knapp „saisonbedingt“.
Talentschmieden für Spitzenköche
Das Restaurant „Aubergine“ wird in den 1980er-Jahren der
führende Ausbildungsbetrieb für spätere Spitzenköche in
Deutschland. Witzigmann-Schüler sind unter anderem die Sterne-
Köche Harald Wohlfahrt, Hans Haas, Alfons Schuhbeck, Johann
Lafer und Claus-Peter Lumpp. „Diese wiederum hatten zum Teil
eigene Schüler, aus denen ebenfalls sehr gute Köche geworden
sind“, so Groß. „Insofern kann man das ‚Aubergine‘ als Keimzelle
für den zweiten gastronomischen Schub in Deutschland sehen, der
in den Neunzigerjahren einsetzte“, erläutert der frühere Michelin
Inspektor, der diese Zeit hautnah miterlebt hat.
Als zweite „Talentschmiede“ für Top-Gastronomen und Spitzenköche
in Deutschland öffnen zeitgleich mit dem „Tantris“ die
„Schweizer Stuben“ in Wertheim am Main. Hier arbeiten seit den
frühen 1970er-Jahren unter anderem die Brüder Jörg und Dieter
Müller als Küchenchefs. Weitere Parallele zu dem Münchner Top-
Restaurant: Beide Häuser werden von Unternehmern gegründet,
die auf Auslandsreisen ihre Liebe für die Haute Cuisine entdeckt
haben.
Die 1980er-Jahre: Top-Gastronomie im stetigen Aufwind
Bereits 1982 können sich drei Restaurants in Deutschland mit drei
Sternen schmücken – eine Entwicklung, an der auch der
MICHELIN-Führer Anteil hat. Dazu Chefredakteur Ralf Flinkenflügel:
„Viele Köche erzählen uns, dass speziell die Sterne ein großer
Ansporn für exzellente Leistungen sind. So gesehen leistet der
MICHELIN-Führer sicher auch einen Beitrag zur Entwicklung der
Restaurantlandschaft in Deutschland.“ 1988 steigt die Zahl der 3-
Sterne-Adressen vorübergehend sogar auf vier Häuser.
Zahlreiche Betriebe, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in die
Sterne-Klasse aufrücken, führen das Prädikat noch heute. Für Groß
ein Zeichen für Leistungsfähigkeit und Innovationskraft: „Das
kulinarische Niveau ist in den vergangenen Jahrzehnten ständig
gestiegen. Wenn ein Restaurant über lange Zeit einen Stern führt,
dann ist es auch in der Lage, sich an die stetig wachsenden
Ansprüche anzupassen. Stillstand ist in der Spitzengastronomie
gleichbedeutend mit Rückschritt.“
Steigendes Interesse bei Lesern und Medien
Parallel zum Niveau der Gastronomie steigen die Auflagen des
MICHELIN-Führers. „Ende der Achtziger hatten wir uns endgültig
als führender Hotel- und Gastronomieführer in Deutschland
etabliert“, blickt Ex-Tester Groß zurück. Beleg für das wachsende
Renommee auch rechts des Rheines: „Die Berichterstattung der
Presse über die Verleihung und Streichung von Sternen nahm in
dieser Zeit deutlich zu.“ Kurioser Nebeneffekt des Ruhms: „Viele
Gastronomen suchten jetzt systematisch ihre Parkplätze nach
Fahrzeugen mit Karlsruher Kennzeichen und MICHELIN Reifen ab.
Besonders verdächtig waren allein reisende Herren“, schmunzelt
Groß. Was Restaurantchefs und Küchenchefs bis heute oft nicht
wissen: „Kaum ein Inspektor hat das Nummernschild ‚KA‘ an
seinem Wagen.“
Michelin Inspektoren in internationaler Mission
Die deutschen Michelin Inspektoren sind bereits damals nicht nur
in der Heimat unterwegs, sondern helfen ihren europäischen
Kollegen auf Anfrage aus. Besonders eng ist die Zusammenarbeit
aufgrund der räumlichen Nähe im Elsass. Der internationale
Austausch gehört heute zu den Grundprinzipien beim MICHELINFührer:
„Ausgewählte Inspektoren verbringen einmal im Jahr eine
Woche in Frankreich, Italien, Spanien und den Benelux-Ländern
und testen Restaurants. Ebenso kommen Engländer, Spanier und
Belgier nach Deutschland, um hier die Sterne-Gastronomie
kennenzulernen und zu bewerten“, berichtet Chefredakteur
Flinkenflügel. Alle Restaurant-Inspektoren sind außerdem für den
MICHELIN-Führer „Main Cities of Europe“ tätig, der die
wichtigsten europäischen Metropolen abdeckt. Hintergrund: In den
Ländern, die nicht von einem eigenen Guide abgedeckt werden,
unterhält Michelin keine Testerteams. Deshalb testen Inspektoren
aus dem Ausland in Metropolen wie Kopenhagen, Stockholm,
Budapest und Prag die Gastronomie.
Die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg gewährleistet einen
einheitlichen Standard im Erscheinungsgebiet des MICHELINFührers.
Für alle Länder, die der Hotel- und Gastronomieführer
abdeckt, gelten dieselben strengen Bewertungskriterien. Die Leser
können deshalb davon ausgehen, dass ein 1-Stern-Restaurant in
München oder Berlin das gleiche Qualitätsniveau bietet wie ein
Haus derselben Kategorie in London, Rom oder Madrid.
Langsamer Abschied von Heizzulage und Etagendusche
Parallel zum Niveau in der Gastronomie steigen in den 1970er- und
1980er-Jahren der Komfort in der Hotellerie und die Ansprüche der
Reisenden. Das belegen die Piktogramme des MICHELIN-Führers.
So findet sich 1980 der Vermerk, dass für die Heizung in
Deutschland meist ein besonderer Zuschlag erhoben wird, nicht
mehr in der Einleitung. Auch die Symbole für „Etagenbad“,
„Etagendusche“ und „Nur fließend kaltes Wasser“ verschwinden.
Allerdings bleibt der Hinweis, dass dies in einfacheren Häusern
noch immer üblich ist.
Erstmals erscheinen dafür Zeichen für „Fernsehen im Zimmer“,
„Sauna“ und „Konferenzraum“. Vom allmählichen Aufkommen des
„Plastikgeldes“ als Zahlungsmittel zeugen Anfang der 1980er-Jahre
vereinzelte Kreditkartensymbole im MICHELIN-Führer. Auch den
behindertengerechten Ausbau mancher Häuser hebt der praktische
Reisebegleiter jetzt hervor.
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 beginnt ein neues,
spannendes Kapitel. Mehr darüber ist in der vierten Folge der Reihe
über die Geschichte des MICHELIN-Führers zu lesen.