Geschlecht ist nicht alles
Aber: Genderaspekte bieten zahlreiche Chancen für die Ernährungskommunikation
Dass es beim Essverhalten zwischen Männern und Frauen Unterschiede gibt, zeigt sich an vielen Beispielen. So greifen Frauen nach der Nationalen Verzehrsstudie II stärker zu Gemüse und Obst.
Männer essen dagegen doppelt so viel Fleisch und trinken mehr Alkohol. Andere Studien zeigen, dass die tägliche Essensversorgung der Familie nach wie vor überwiegend Frauensache ist, während sich Männer nicht selten zum Kochen als „Event“ hingezogen fühlen. Was heißt das für die Ernährungskommunikation? Sollten Fachkräfte diese Geschlechterunterschiede eher betonen oder nicht beachten? Das waren die zentralen Fragen beim 12. aid-Forum in Bonn, wo knapp 300 Frauen und 10 Männer über Ernährungskommunikation unter Gender-Aspekten diskutierten.
„Es ist schwierig, von ‚den Männern‘ und ‚den Frauen‘ zu sprechen“, sensibilisiert die Sozialwissenschaftlerin Dr. Jana Rückert-John. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Altersgruppen oder sozialen Schichten seien unter Umständen größer als zwischen den Geschlechtern. Das bisherige Geschlechterbild müsse daher viel breiter und auch differenzierter aufgestellt werden. „Wir dürfen das Geschlecht als soziale und auch entlastende Struktur- und Ordnungskategorie nicht über- und nicht unterbewerten.“
Das Geschlecht als soziale Tatsache (Gender) wird in zwischenmenschlichen Interaktionen erzeugt. Es ist eine andauernde Darstellungs- und Interpretationsleistung. Die Domäne der Ernährung ist nach Rückert-John eine wichtige Ressource zur Herstellung von Identität: „Essen macht Geschlecht, denn mittels Essen und kulinarischer Praxen werden Geschlechterrollen zum Ausdruck gebracht.“ Gleichzeitg drückt Ernährung auch Geschlechtertrennung aus. Damit ist klar, dass es sich beim Thema Ernährung um mehr als den Griff zu Gemüse oder Fleisch handelt.
„Fast drei Viertel der Männer zwischen 20 und 25 Jahren überlässt das Handlungsfeld der Beköstigung ihren Müttern, Omas oder Partnerinnen“, berichtet Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe. „Für berufstätige Mütter ist damit eine Doppel- und Dreifachbelastung vorprogrammiert.“ Wichtig ist ihr, Kommunikation und Empfehlungen an möglichst differenzierte Zielgruppen auszurichten. Im Ess- und Versorgungsalltag hat sie bei berufstätigen Müttern verschiedene Typologien identifiziert, die ihren Ergebnissen nach unterschiedlich viel Unterstützung brauchen.
Um Benachteiligungen zu vermindern, muss der Zyklus sich reproduzierender Rollenbilder durchbrochen werden. „Gender-Sensibilität muss viel stärker in die Lebens- und Lernorte von Kindern und Jugendlichen gebracht werden“, fordert Dr. Margret Büning-Fesel, Geschäftsführender Vorstand des aid infodienst. „Nur so können wir dazu beitragen, dass sich bestimmte Rollenmuster erst gar nicht zu stark ausprägen, sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen.“
„Wir müssen verstehen, woher Stereotypen kommen, sie bewerten und in unserer Kommunikation darauf achten, diese Stereotypen nicht noch zu verstärken. Damit tragen wir zu mehr Geschlechtergerechtigkeit bei“, formulierte die Marktforscherin und Marketingberaterin Eva Kreienkamp ihr Verständnis von Gender-Marketing. Geschlechtersensible Ernährungskommunikation formuliere Nutzenbotschaften für Männer und Frauen. Wer seine Zielgruppe erreichen wolle, müsse neben den Botschaften auch die Medienwahl und die Orte der Ansprache anpassen.
Bisher würden Männer nur in geringem Maße als relevante Zielgruppe für Ernährungsbotschaften und Produkte identifziert, so Kreienkamp. „Wir müssen Geschlechterstereotype durch Perspektivwechsel und geschlechteruntypische Darstellungen überwinden.“ „Entwickeln Sie veränderte Rollenvorbilder und neue Geschichten und nutzen diese für Ihre Kommunikation“, gab Büning-Fesel daher den anwesenden Fachkräften mit auf den Weg.
Welcher Umgang mit den Unterschieden zwischen Männern und Frauen ist nun der richtige? Für die professionelle Ernährungskommunikation resümiert Büning-Fesel: „In bestimmten Situationen kann es sinnvoll sein, Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu betonen.“ Das müsse je nach Zielgruppe, Ziel und Arbeitsbereich hinterfragt werden. Männer und Frauen verfügen über wichtige Ressourcen im Bereich der Ernährung. „Genderaspekte bieten zahlreiche Chancen für die Ernährungskommunikation – wenn man sie richtig nutzt!“
aid, Andrea Fenner