Seine persönliche Koch-Philosophie verkündete der spanische 3-Sterne-
Koch Ferran Adriá Mitte Januar 2006 in einem dramatischen Auftritt
anlässlich der Eröffnung einer Madrider Gastronomie-Messe. Er trug
ein 23 „Gebote“ umfassendes Manifest vor, das unter dem Titel
SÍNTESIS DE LA COCINA DE EL BULLI in spanischer Sprache
veröffentlicht wurde. El Bulli ist der Name des Restaurants in der
Nähe von Barcelona, in dem Ferran Adriá Ende der 80er seine
Kochexperimente begann.
Der Stuttgarter Gastro-Kritiker und Hispanist Dirk Baranek [www.dirk-
baranek.de] hat jetzt eine deutsche Übersetzung angefertigt.
Die Küche des El Bulli
Mitte der Neunziger Jahre begann sich ein neuer Stil des Kochens
herauszubilden. Heute ist dieser Stil vollständig gefestigt und
definiert sich anhand der folgenden Punkte:
1. Das Kochen ist eine Sprache durch die man Harmonie, Kreativität,
Glück, Schönheit, Poesie, Komplexität, Magie, Humor, Provokation und
Kultur ausdrücken kann.
2. Die Verwendung von Produkten höchster Qualität wird als
selbstverändlich vorausgesetzt, ebenso wie das technische Wissen,
diese zu verarbeiten.
3. Alle Produkte haben den gleichen gastronomischen Wert, unabhängig
von ihrem Preis.
4. Produkte aus der Welt der Pflanzen und des Meeres werden bevorzugt
benutzt. Es herrschen ferner Milchprodukte, Trockenfrüchte und andere
Produkte vor, die in ihrem Zusammenspiel eine leichte Küche formen.
In den letzten Jahren wird sehr wenig Gebrauch von rotem Fleisch und
Geflügel in großen Stücken gemacht.
5. Auch wenn man die Eigenschaften der Produkte verändert
(Temperatur, Struktur, Form etc.), ist es immer das Ziel, die
Reinheit des ursprünglichen Geschmacks zu erhalten, außer in
denjenigen Prozessen, bei denen man etwas lange kocht oder bei denen
man die Nuancen sucht, die aus Reaktionen resultieren wie die des
Maillard.
6. Die Techniken des Kochens, die klassischen wie die modernen, sind
ein Kulturgut, das der Koch maximal zu nutzen wissen muss.
7. Wie es im Lauf der Geschichte in der Mehrzahl der Bereiche der
menschlichen Entwicklung geschehen ist, sind die neuen Technologien
eine Hilfe beim Fortschritt des Kochens.
8. Die Familie der Fonds wird erweitert und man benutzt – neben den
klassischen – leichtere Fonds, die die gleiche Funktion erfüllen
(Wässer, Brühen, Consomés, geklärte Gemüsesäfte, Essenzen aus
Trockenfrüchten, etc.)
9. Die durch eine Speise dargestellte Information genießt man mit den
Sinnen; man genießt und erfasst aber auch durch die Reflexion.
10. Die Sinne werden nicht nur durch den Geschmack stimuliert. Man
kann ebenso mit dem Tastsinn spielen (Kontraste bei Temperaturen und
Strukturen), dem Geruch oder dem Sehen (Farben, Formen, optische
Täuschung, etc.), wobei die Sinne zu einem der wichtigsten
Referenzpunkte im kreativen Schaffen werden.
11. Die technisch-konzeptionelle Suche ist die Spitze der kreativen
Pyramide.
12. Es wird als Mannschaft kreiert. Andererseits bestätigt sich das
Prinzip des Erforschens als neue Eigenschaft des kreativen,
kulinarischen Prozesses.
13. Die Grenzen zwischen der Welt des Süßen und der Welt des Salzigen
werden ausradiert. Bedeutung erlangt die neue kalte Küche,
insbesondere die Kreationen aus der Welt des salzigen Eises.
14. Die klassische Struktur der Gerichte wird zerstört. Bei den
Vorspeisen und den Nachspeisen gibt es eine wahre Revolution, die
viel zu tun hat mit der Symbiose zwischen der Welt des Süßen und der
Welt des Salzigen. Bei den Hauptgerichten wird die Hierarchie
„Produkt-Garnieren-Sauce“ zerstört.
15. Die neuen Möglichkeiten die Speisen zu servieren vervielfachen
sich. Durch den Service wird eine Aktualisierung der fertigen Speisen
am Tisch vorgenommen. In anderen Fällen sind es die Gäste, die an
dieser Fertigstellung teilnehmen.
16. Das Ursprüngliche als Stil ist ein Gefühl der Verbindung mit dem
eigenen geografischen und kulturellen Kontext, wie auch mit dessen
kulinarischer Tradition. Die Verbundenheit mit der Natur ergänzt und
bereichert diese Beziehung mit der Umwelt.
17. Die Produkte und Verarbeitetes aus anderen Ländern werden den
eigenen Kriterien des Kochens unterworfen.
18. Es gibt zwei große Wege, die Harmonie der Produkte und des
Geschmacks zu erreichen: durch die Erinnerung (Dekonstruktion,
Verbindung zum Ursprünglichen, Adaption, moderne frühere Rezepte),
oder durch neue Kombinationen.
19. Man erfindet eine eigene, immer weiter genormte Sprache, die
manchmal Beziehungen zur Welt der Kunst und zu deren Sprache herstellt.
20. Die Konzeption der Rezepte ist so auszurichten, dass die Harmonie
in kleinen Portionen hergestellt wird.
21. Die Dekontextualisierung, die Ironie, das Spektakel, die
Perfomance sind absolut zulässig, immer dann wenn sie nicht
oberflächlich sind, sondern wenn sie antworten oder sich auf eine
gastronomische Reflexion beziehen.
22. Das Menü mit vielen Gängen (menú degustación) ist der höchste
Ausdruck der Küche der Avantgarde. Seine Struktur ist lebendig und
dem Wandel unterworfen. Man setzt auf Konzepte wie Snacks, Tapas,
avant postres, Morphings, etc.
23. Das Wissen und/oder die Zusammenarbeit mit Experten aus
verschiedenen Bereichen (gastronomische Kultur, Geschichte,
industrielles Design, etc.) ist wesentlich für den Fortschritt des
Kochens. Insbesondere die Zusammenarbeit mit der
Nahrungsmittelindustrie und der Wissenschaft bedeuteten einen
fundamentalen Impuls. Diese Kenntnisse mit den Professionellen des
Kochens zu teilen, trägt zu der genannten Weiterentwicklung bei.
Copyright:
Ferran Adriá, Madrid 2006, www.el-bulli.com
Für die deutsche Fassung: Dirk Baranek, Stuttgart 2006,
www.dirk-baranek.de