Heiko Antoniewicz

Suppeneinlage zum Selberspritzen – Kulinarische Entdeckungslust verbindet Gastronomie und Industrie

Die grüne Geschmacksnote ist Olivenöl und Mango gemeinsam – daher harmonieren sie hervorragend. Diese Einschätzung von Molekularkoch Heiko Antoniewicz bei seiner Kochdemonstration hat einige Teilnehmer des Workshops „Molekulargastronomie trifft Industrie“ am ttz Bremerhaven zunächst überrascht. Eine Kostprobe des Mango-Desserts mit Olivenöl lieferte dann jedoch den Beweis: der Mut zum kreativen „Flavour Pairing“ wird belohnt. Die Molekularküche eröffnet neue Sinneserlebnisse durch ungewöhnliche Darbietungsformen und geschmackliche Kombinationen bekannter Lebensmittel. Nudeln aus Kürbiskernöl werden mit einer Spritze angefertigt, Erbsensuppe als verkapseltes „Bonbon“ gereicht. Ein Kreativpool für Avantgardisten? Der Workshop belegt ein zunehmendes Interesse aus der Lebensmittelindustrie, denn Fortschritte in der Verfahrenstechnik ermöglichen die Umsetzung molekulargastronomischer Konzepte mittlerweile auch im großen Maßstab.

Die Warenvielfalt scheint bei jedem Besuch im Supermarkt zu wachsen. Mehrere Regalmeter sind zurückzulegen, um alle Varianten eines Produktes zu begutachten. Die geschmackliche Vielfalt bleibt für gewöhnlich jedoch hinter dem Abwechslungsreichtum der Verpackungen weit zurück. Ein Know-how Transfer aus der Molekulargastronomie in die Lebensmittelindustrie kann diesen Zustand ändern, so die Überzeugung des ttz Bremerhaven. Wohlkalkulierte Überraschungseffekte und neue Darbietungsformen von Lebensmitteln wecken beim Verbraucher Neugier und bleiben im Gedächtnis. Das Interesse an Lebensmitteln, die sich den Konsumgewohnheiten widersetzen, wird wachgekitzelt. Es wird bewusst hingespürt, geprüft, nach Vergleichen gesucht. Überraschung als natürlicher Geschmacksverstärker. Die Beherrschung modernster Prozesstechnik und das Wissen über Aufbau und Eigenschaften von Lebensmitteln ermöglichen die Dekonstruktion und den Neuaufbau in bisher unbekannter Form. Die Suche nach echten Innovationen verbindet Küchenhandwerk und Convenience-Segment.

Die Physik der Lebensmittel respektieren
Hinter den Kreationen steht profundes Wissen von physikalischen und chemischen Zusammenhängen. „ein chemisch-physikalisches Funktionsprinzip, das über den bisherigen Stand der Technik in Industrie und Mole-kularküche noch hinausgeht, sprach Prof. Klaus Lösche vom ttz Bremerhaven BILB EIBT an: „Zur Herstellung eines formstabilen Protein-Schaums kann man sich die unterschiedlichen elektrischen Ladungen der Inhaltsstoffe zu Nutze machen: das positiv geladene Biopolymer Chitosan geht z.B. mit den enthaltenen Proteinen eine Neutralisierungsreaktion ein, so dass sich der Ladungszustand spezifisch ändert. Der Schaum fällt dann nicht mehr zusammen, die Stabilität ist auch über längere Zeit gewährleistet.“ Analoge Lösungsansätze ergeben sich laut Lösche beispielsweise auch für Panaden (Coatings) von Fleisch oder Fisch: Die Haftungseigenschaften von Panaden lassen sich unter Berücksichtigung der Partikelladung erheblich verbessern und beherrschen. Die Lebensmitteltechnologie habe das praktische Potenzial hinter diesem Wissen noch nicht wirklich erkannt, so seine These.

Bei den gängigen Kreationen ist heute noch der Einsatz von texturgebenden Stoffen wie Pektin und anderen natürlichen Zutaten wie Guarkern- und Johannisbrotkernmehl erforderlich. Auch das aus der japanischen Küche bekannte Agar-Agar und andere Algenextrakte leisten dabei gute Dienste und verhalten sich bei richtiger Dosierung geschmacksneutral.

Kochkunst als Vorlage für Lifestyle-Produkte
Ist das Rezept für kreative Lebensmittel, Künstler an den Kochtopf zu stellen? Weder Gastronomie noch Industrie gelten als Vertreter des „L’art pour l’art“- Prinzips. Neue Ansätze müssen immer auch mit ihrer Kosten-Nutzen-Rechnung überzeugen. Zunehmende Berufstätigkeit und ein verändertes Freizeitverhalten lassen Fertigprodukte boomen. Mit der Aufwertung des Segments, der schnellen Gewöhnung und der abnehmenden Markentreue der Verbraucher wächst auch der Innovationsdruck auf die Produktentwickler. Aufgrund der hohen Floprate in der Produktentwicklung und den damit verbundenen Kosten wagen die Kreativen sich aber oft nicht an wirkliche Innovationen heran, oder haben schlicht nicht die Ressourcen oder den verfahrenstechnischen Hintergrund. Impulse von externen Fachleuten können neue Wege eröffnen und die Dynamik der Erneuerung fördern.

Das Unternehmen „Deutsche See“ hat sich Inspirationen für seine neue Produktlinie „meerrauch“ von Molekularkoch Heiko Antoniewicz geholt. Der Aufbau von verschiedenen Geschmacksschichten sowie unerwartete Texturmodifikationen – zum Beispiel die Verwendung einer mit Rauch aromatisierten Folie, die dem verwendeten Lardo-Speck in der Makrele-Lardo-Rolle eine zarte Rauchnote verleiht – machen den Unterschied. „Der normale Kunde sieht den Produkten ihren molekulargastronomischen Gehalt nicht an, wohl aber die sorgfältige, filigrane Handarbeit“, so Antje de Vries, Teamleiterin Produktmarketing für den Bereich Gastronomie, die die Entwicklung und Einführung des Sortiments begleitet hat. Die „Deutsche See“ lieferte damit den Beweis für die industrielle Umsetzbarkeit in Manufakturqualität: In den ersten fünf Wochen nach der Markteinführung wurden gut 1,3 Tonnen abgesetzt. Neue Kreationen sollen noch in diesem Jahr lanciert werden. Für den Massenmarkt sind die aufwendigen Kreationen (noch) nicht geeignet; doch Abnehmer, die das Besondere suchen, schätzen kreative Nischen.

Prätest minimiert Risiko der Markteinführung Bei dem Bestreben der Lebensmittelindustrie, die sensorischen Präferenzen und Konsumgewohnheiten dieser Zielgruppe kennenzulernen und damit das Risiko der Produktentwicklung zu minimieren, kann praxisbezogene Forschung Hilfestellung bieten. Auch wenn Geschmacksempfinden individuell ist, Geschmack und sensorische Wahrnehmung lassen sich wissenschaftlich analysieren. „Die Verknüpfung von Analyseergebnissen mit den Erkenntnissen aus Verbraucherpanels erlaubt eine bessere Einschätzung der realen Marktchancen. Da die Erweiterung des Sortiments um solche Produkte genaue Studien und eine prozesstechnische Weiterentwicklung voraussetzt, können Wettbewerber diesen Vorsprung kurzfristig nicht aufholen“, so Werner Mlodzianowski, Geschäftsführer des ttz Bremerhaven. Aufgrund der langjährigen Expertise mit Projekten im Bereich Molekulargastronomie und Geschmacksforschung bietet sich das ttz Bremerhaven als neutrale Plattform an, um den Verfahrenstransfer zwischen Produktentwicklern, Spitzenköchen, Verfahrenstechnikern, Lebensmitteltechnologen und Marketingexperten anzukurbeln.

Genuss widersteht Zeit- und Preisdruck Verstärkte Nachfragen aus der Industrie waren der Auslöser für den Entschluss, in dem Workshop „Molekulargastronomie trifft Industrie“ neue Möglichkeiten zur Sortimentserweiterung und Vermarktung aufzuzeigen. „Wir haben im Dialog mit Unternehmen ein zunehmendes Interesse an Molekulargastronomie und eine große Offenheit gegenüber diesem Thema festgestellt. Sie gilt heute zwar noch als etwas exotisch, wird aber durch die fortschreitende Erforschung immer besser einschätzbar“, so Martin Schüring, Lebensmitteltechnologe und Organisator des ersten Workshops dieser Art.

Der Bedarf an Innovationen ist in der dynamischen Lebensmittelindustrie groß. Beispielsweise im Flug-Catering wechseln die Menüfolgen alle 2-3 Monate. Die Molekulargastronomie liefert interessante Anregungen, die industriell umsetzbar erscheinen, so dass Fazit der Teilnehmer. Den Schlüssel zu einem neuen Massenmarkt stellt das Etikett „molekular“ wohl nicht dar, der Trend könnte jedoch lukrative Nischen besetzen. In Zeiten, in denen man auch auf Leitmessen des Lebensmittelhandels nur selten echte Innovationen zu sehen bekommt, kann der Imagegewinn eines „Geschmackspioniers“ ein entscheidender Wettbewerbsvorsprung sein.

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