„DER STANDARD“-Kommentar: „Der Respekt vor dem Lebens-Mittel“ von Carlo Petrini

Der Mythos von der Produktivität auf höchstem Niveau
hat sich erledigt: Um die Menschen dieser Erde zu ernähren, reicht es
nicht aus, einfach nur mehr zu produzieren, wie zum Beispiel die
Verfechter der Gentechnik oder all jene, die wirtschaftliche
Interessen an den „commodities“ der internationalen Märkte haben, uns
glauben machen. Um die jetzige und künftige Krisen abzuwenden, ist es
notwendig, die Produktion, den Konsum und die Verteilung zu
verbessern.

Das herrschende agro-industrielle Modell hat die Lebensbedingungen
vieler Menschen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zweifellos
verbessert. Jetzt aber zeigt sich seine Grenze. Es ist nicht mehr
vertretbar, nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus
wirtschaftlicher Sicht.

Die Welt verändert sich so rasch, dass die Modelle, die wir gewöhnt
waren, mit Verspätung reagieren und statt Probleme zu lösen, neue
hervorbringen.
Es ist Zeit für einen völlig neuen Ansatz, und die Lösung könnte in
einer fortschrittlichen Regionalisierung der Wirtschaft liegen.
Lokale Wirtschaften, in denen die Produktion im kleinen Rahmen
aufgewertet wird, sich eine direktere Beziehung zwischen
landwirtschaftlichem Produkt und Endverbraucher ergibt, in denen der
Wert der Nahrung nicht mehr nur wirtschaftlicher, sondern wieder
kultureller Natur ist, ohne den pädagogischen Aspekt zu
vernachlässigen. Seit dem Lebensmittel die sozialen und regionalen
Funktionen genommen wurden und der Bauer entbehrlich wurde, hat sich
eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, deren Konsequenzen jetzt nicht
mehr zu übersehen sind.

Wir können von den Entwicklungsländern nicht verlangen, auf
Wohlstand, den sie gerade erobern, zu verzichten: Wir müssen
versuchen, ein Modell, das auf Beschränkung und Konvergenz beruht,
durchzusetzen. Darin schränken die reichen Staaten ihren
Ressourcenkonsum ein. Wenn sie vor allem gegen die Verschwendung und
das bestehende Verteilungssystem vorgehen, brauchen sie auf ihren
Wohlstand nicht zu verzichten. Die Schwellenländer können wachsen,
allerdings nachhaltig, das heißt, ohne ihre Tradition und Kultur
aufzugeben.

Eine regionale Wirtschaft, oder besser eine Vernetzung regionaler
Wirtschaften erlaubt eine effiziente, lokale Nutzung der Ressourcen.
Sie kann Umweltbelastungen etwa durch unnötige Transporte reduzieren
und besser recyceln. Sie liefert auch bessere, frischere und
billigere Lebensmittel, die der lokalen kulturellen Identität
entsprechen.

So gewinnt der Bauer wirtschaftlich und kulturell wieder an
Bedeutung. Sogar eine Umkehrung der Landflucht scheint denkbar. Das
kann sowohl den reichen als auch den armen Ländern nützen. Denn ein
Netz von lokalen Wirtschaften ist flexibel. Es kann die biologische,
kulturelle, klimatische und geografische Vielfalt in ein System
integrieren. Damit kommt eine Region mit Unvorhersehbarkeiten, die
sich im jetzigen System als scheinbar unbewältigbare Probleme
darstellen, besser zurecht.

Der Schlüssel zu einer besseren Zukunft der Lebensmittelproduktion
liegt im Respekt vor dem Wert des Lebens-Mittels. Es ist dies eine
Zukunft der Harmonie in der Vielfalt, eine Zukunft, in der die
Nahrung Genuss bedeutet und zu einem identitätsstiftenden Element und
zu einem Symbol für wahre Lebensqualität wird: einer Form der
Friedensdiplomatie und keinem Instrument der Macht, der Unterdrückung
und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen.

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