Interview mit Ralf Flinkenflügel

Der Mann ohne Gesicht aber mit Namen: Ralf Flinkenflügel

Sternefresser.de: Herzlichen Dank, dass Sie uns für einige Fragen zur Verfügung stehen, Herr Flinkenflügel. Skizzieren Sie doch zunächst einmal Ihren Werdegang?

Ralf Flinkenflügel: Ich habe eine Ausbildung zum Koch und Hotelfachmann in der Steigenberger Hotelfachschule gemacht. Danach durchlief absolvierte ich folgende Stationen: Steigenberger Frankfurter Hof (Frankfurt), Steigenberger Europäischer Hof (Baden-Baden), Hotel Zum Hirsch (Baden-Baden), Brown’s Hotel (London), Queen Elisabeth 2, Brasserie Flo (Stuttgart), ab 1992 Michelin Hotel-Inspektor, ab 2000 stellvertretender Redaktionsleiter. Seit 2009 bin ich Chef-Redakteur der deutschen Michelin Ausgabe.

 

Sf.de: Wie kam es zum Wechsel Ihrer Vorgängerin Juliane Caspar nach Frankreich?

R.F.: Dazu sollten Sie Frau Caspar direkt fragen. Sie hat in Deutschland ausgezeichnete Arbeit geleistet und die Stelle in Frankreich war neu zu besetzen.

 

Sf.de: Was genau sind die Kriterien, auf die der Tester zu achten hat?

R.F.: In Bezug auf die Küche gelten folgende Kriterien: die Qualität der Produkte, die persönliche Note, die fachgerechte Zubereitung und der Geschmack sowie das Preis-Leistungsverhältnis.

 

Sf.de: Wie läuft ein Testessen im Detail ab? Müssen die Tester alles merken oder gibt es auch Kollegen, die das Klischee des Einzelgastes bedienen, der sich Notizen macht?

R.F.: Wir treten wie jeder andere Gast auf. Bestellen, essen, bezahlen und gehen. Erst danach (und nicht im Restaurant) wird ein detaillierter Bericht angefertigt.

 

Sf.de (Leserfrage): Wie funktioniert nach der Beurteilung des Einzelnen die interne Abstimmung bis hin zur finalen Bewertung?

R.F.: Die Inspektoren sprechen mit mir alle Berichte durch. Hat sich das Niveau der Küchenleistung nach oben oder nach unten verändert, werden weitere Testessen von anderen Inspektoren gemacht. Liegen alle Ergebnisse vor, treffen sich Inspektoren, Chefredakteur und die französische Direktion zur sogenannten „Sterne-Konferenz“. Während der Sterne-Konferenz, die eine Woche dauert, werden alle Dossiers besprochen. Die Entscheidungen werden im Konsens getroffen.

 

Sf.de: Wie vermeidet man, dass persönliche Befindlichkeiten bzw. die Tagesform des Testers die objektiven Kriterien überlagern?

R.F.: Die Inspektoren sind Profis und können sich von persönlichen Befindlichkeiten frei machen. Sollte ein Inspektor aber krank sein oder sich unwohl fühlen, testet er kein Restaurant.

 

Sf.de: Es gibt etliche Köche, die sich maßlos unterbewertet fühlen und auch die Diskussion mit dem Guide suchen. Wie gehen Sie grundsätzlich damit um und wie viele Zuschriften bekommen Sie zu diesem Thema?

R.F.: Die Anzahl der Zuschriften zu diesem Thema ist wirklich nicht sehr groß. Es gibt durchaus Hoteliers oder Küchenchefs, die das persönliche Gespräch mit uns suchen. Wenn das der Fall ist, treffen wir uns und besprechen die Fragen unter vier Augen.

 

Sf.de (Leserfrage): Wie gehen Sie mit einer Abwertung um, kann der Verlierer sich erkundigen, welche Gründe es gegeben hat?

R.F.: Ja, die Gründe werden bei einem Besuch in Karlsruhe von uns gerne genannt.

 

Sf.de: Letztlich ist der Tester, egal ob vom Michelin oder einer Zeitung, ein Rezipient der Küche und reflektiert das Erlebte. Dies ist unweigerlich mit einer gewissen Tendenz verbunden ist: Kritisiere ich A oder B in einem Restaurant, wird wohl an diesen Stellschrauben zuerst gedreht. Ist das ein Grund, warum es keine ausführlichen Restaurantberichte vom Guide Michelin gibt?

R.F.: Es gibt ausführliche Testberichte, die aber prinzipiell nicht veröffentlicht werden. Das ist schon seit über 100 Jahren unsere Vorgehensweise.

 

Sf.de: Will man sich mit der reinen Vergabe der Sterne den Bewertungen konkreter Aspekte entziehen?

R.F.: Nein.

 

Sf.de: Und somit letztlich auch das Initiieren oder beeinflussen von Trends zu vermeiden?

R.F.: Richtig, wir geben keine Trends vor.

 

Sf.de (Leserfrage): Wie oft werden momentan 3-, 2- 1-Sternelokale besucht?

R.F.: Die Sterne-Restaurants werden mindestens einmal im Jahr besucht. Sollten wir Veränderungen feststellen, werden weitere Essen von anderen Inspektoren durchgeführt. Es kann sein, dass wir in einem Jahr 6, 7 oder 8 Meinungen unterschiedlicher Inspektoren zu einem Restaurant einholen.

 

Sf.de (Leserfrage): Wird dabei immer das große Menü gegessen oder aus Zeit- oder Kostengründen auch mal nur zwei Gänge à la carte?

R.F.: Klingt das Menü interessant – dann durchaus das Menü. Ansonsten bestellen wir die Gerichte der Karte, bei denen die Küche besonders gefordert ist (z.b. Terrinen, geschmorte Gerichte, Soufflés…). Zeit- oder Kostengründe spielen keine Rolle.

 

Sf.de: Es heißt immer, die Sterne beziehen sich allein auf das Essen. Demnach müsste das gleiche Essen auch in einem „White Cube“ oder einem komplett neutralen Raum genauso schmecken bzw. bewertet werden.

R.F.: Richtig.

 

Sf.de: Wie aber kann man sich von der Atmosphäre eines Restaurants frei machen?

R.F.: Man muss alles um sich herum ausschalten. Das ist machbar. Für unsere Inspektoren gehört das zu ihrer alltäglichen Arbeit. Sie müssen bedenken, dass ein Inspektor im Jahr etwa 250 Essen testet.

 

Sf.de: Wie viel Gastro- oder auch Kulturpolitik steckt in einer Wertung des Michelins?

R.F.: Keine. Wir reflektieren ausschließlich die Küchenleistung. Sie dürfen nicht vergessen, dass der Michelin Führer für den Reisenden gemacht wird. Das ist für uns das Wichtigste.

 

Sf.de: Sind die Michelin-Kriterien weltweit gleich oder auf das jeweilige kulturelle Umfeld eines Landes angepasst? Oder anders gesagt: sind Deutsche *** soviel „wert“ wie Amerikanische, Französische oder Asiatische ***?

R.F.: Absolut richtig. Die Kriterien sind weltweit dieselben.

 

Sf.de (Leserfrage): Speziell bei den Amerikanern hört man immer wieder, dort werde großzügiger bewertet (Beispiel: der Sprung des Eleven Madison Park von 1* auf 3*). Wie begegnen Sie derartigen Vorwürfen? Brauchte man aus Marketinggründen neue 3 Sterner für die New Yorker Ausgabe?

R.F.: Das können wir nicht nachvollziehen. Die Kriterien sind international dieselben. Sterne werden für die Qualität des Essens vergeben.

 

Sf.de: Wie kürzlich zu lesen war, gibt es in Japan inzwischen 29 3-Sterner und somit 4 mehr als im „Pays de Gastronomie“ Frankreich. Diese Entwicklung ist rasant – stellt sich also auch die Frage, ob die Kaufkraft (für den Guide) mit über die Häufigkeit der Bestwertungen bestimmt?

R.F.: Die Kaufkraft hat auf die Bewertung keinen Einfluss.

 

Sf.de: In den letzten Jahren wurden mehrere Ausgaben des Guides eingestellt: Österreich, Los Angeles oder Las Vegas – steckt die Sparte klassischer Gastro-Guides in einer Krise?

R.F.: Die drei genannten Guides wurden aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt. Das war eine verlegerische Entscheidung. In dieser Zeit wurden dafür andere Destinationen wie Chicago, Kyoto oder Osaka erschlossen.

 

Sf.de: Gibt es Kontakte innerhalb der Branche: tauscht man sich mit den Chefs anderer Guides aus?

R.F.: Die Michelin Chef-Redakteure tauschen sich regelmäßig aus.

 

Sf.de (Leserfrage): Was halten Sie von dem sich auch in Europa immer stärker ausbreitenden Food-Blogging über die Spitzengastronomie?

R.F.:
Aus meiner Sicht zeigt es das wachsende Interesse an Essen und Gastronomie.

 

Sf.de: Wo steht Deutschland Ihrer Ansicht nach kulinarisch?

R.F.: Die deutsche Spitzengastronomie hat sich in den letzten Jahren ausgesprochen dynamisch entwickelt. Nach Frankreich, gibt es in Deutschland die meisten 3 Sterne Restaurants in Europa. Die gastronomische Spitze ist hierzulande breiter geworden.

Insgesamt hat sich die Gastronomie in Deutschland sehr positiv entwickelt. Wir hatten in Deutschland allein in den letzten fünf Jahren einen Zuwachs von 51 Sterne-Restaurants (Stand 2011). Auch der Zuwachs der Bib Gourmand-Adressen ist sehr erfreulich.

 

Sf.de: Hier die Ergebnisse eines Facebook-Votings der Sternefresser. Die Frage lautete, wer im November mit weiteren Sternen rechnen kann. Eine Stellungnahme von Ihnen?

1. Prüßmann (83 Stimmen)
2. Bühner (80)
3. Amador (65)
4. Raue (50)
5. Sackmann (31)
6. Hoffmann (31)
7. Greco (15)

R.F.: Sehr interessant. Bitte haben Sie Verständnis dafür, wenn ich zu den Neuigkeiten des Michelin Führers Deutschland 2012 erst nach der Publikation etwas sage.

 

Sf.de: Wir sind nun sehr auf den kommenden Dienstag gespannt! Können Sie vielleicht zum Abschluss etwas Appetit machen?

R.F.: Auf jeden Fall. Wir freuen uns auf die Publikation des neuen Führers 2012! Es wird eine der spannendsten Ausgaben der letzten Jahre mit vielen interessanten Neuigkeiten, so viel kann ich jetzt schon verraten…

 

Sf.de: Herzlichen Dank für das Interview, Herr Flinkenflügel.
via www.sternefresser.de 

Die Michelin 2011 Ergebnisse: https://gourmet-report.de/artikel/336713/Die-Sterne-Restaurants-Deutschland-2011.html

Quelle: sternefresser.de

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