Vom „Alleskönner“ zum Spezialisten
Das Studium der Ernährungswissenschaften ist bunt. Das liegt vor allem an der interdisziplinären Ausrichtung des gesamten Themenbereichs Essen und Trinken. Soziologische und psychologische Aspekte spielen dabei eine genauso große Rolle wie die Grundlagenforschung, ökonomische Bestandteile sowie Lebensmittelkunde und technologisches Wissen. Da wundert es nicht, dass viele junge Menschen in einer Zeit der immer größer werdenden Spezialisierung von der Vielfalt eines solchen Studiums fasziniert sind. Doch an eben dieser Schere scheiden sich die Geister, was die Zukunftsfähigkeit dieser Disziplin angeht.
Auf der Jahrestagung des Verbandes der Oecotrophologen Mitte Juni 2009 in Freising kam es zu einem Meinungsaustausch, wohin sich die Ernährungswissenschaft in den nächsten Jahren entwickelt. Professor Hannelore Daniel, Leiterin des Lehrstuhls für Ernährungsphysiologie an der TU München, ist sich sicher, dass den Ernährungswissenschaften eine brilliante Zukunft bevorsteht. Allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. „Heute muss man in der Wissenschaft Spezialist sein, sonst ist man dort verloren“, so Daniel. Die stärkere Diversifizierung in der Oecotrophologie und Emanzipierung in allen Teilbereichen über die Ernährungswissenschaft hinaus sei unbedingt erforderlich, um in der Wissenschaftsgemeinschaft gehört und akzeptiert zu werden. In den Medien wird das Thema Ernährung oft mit Skandalen oder Diäten in Verbindung gebracht, aber leider werde nicht vermittelt, dass das auch eine spannende Wissenschaft sei. Daniel weiter: „Ernährungswissenschaft ist in den Köpfen als problemorientierte, angewandte Disziplin verankert. Eine universitäre Ernährungsforschung muss aber vordergründig grundlagenorientiert arbeiten.“
Auch Helga Cvitkovich-Steiner, 1. Vorsitzende des Verbandes der Ernährungswissenschafter Österreichs (VEÖ), sieht enormes Entwicklungspotenzial. „Wir haben kein eigentliches Berufsbild, das heißt, wir müssen uns ständig Nischen suchen.“ Die Ernährungswissenschaft boome aber auch in Österreich. Der Fachbereich ist zur Zeit zum Beispiel gleichauf mit den Pharmazeuten. Cvitkovich-Steiner sieht die Chancen gerade bei der zunehmenden Spezialisierung anderer Berufsgruppen. „Es gilt den 360 Grad-Blick zu schärfen und Disziplinen wie Psychologie und Soziologie als zweites Standbein neben der Grundlagenforschung weiter voran zu treiben“, so die VEÖ-Vorsitzende. Ganz anders sieht es Wissenschaftlerin Daniel: „Der Rundumblick ist ein totes Pferd und tote Pferde soll man nicht reiten“ und fordert zukünftig mehr wissenschaftliche Tiefe mit gezielten Schwerpunkten.
Dennoch waren sich die Diskussionsteilnehmer einig, dass die Ernährungswissenschaft weiter an Bedeutung zunehmen wird, weil das Thema Ernährung „in“ geworden und auch politisch durch die Ernährungsprobleme stark nach oben gekommen ist. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Vernetzung der Ernährungswissenschaftler in den nächsten Jahren mit Biologen, Medizinern oder Psychologen verändern wird.
aid, Harald Seitz