In Klosterneuburg bei Wien produziert Opern-Tenor Herwig
Die Großeltern Pecoraro hatten im Jahr 1900 das bitterarme Valsugana im Trentino verlassen, um in Bludenz (Vorarlberg) in der aufstrebenden Textilindustrie zu arbeiten. Im dortigen „welschen Viertel“ kam 1957 Herwig zur Welt. Im Kirchenchor wurde sein Gesangstalent entdeckt und gefördert, als Jugendlicher sang er erste Solo-Partien, am neu gegründeten Landeskonservatorium für Musik wurde er einer der ersten Studenten. Opernsänger wollte der Tenor aber nie werden. „Stellen Sie sich mal einen Opernsänger in Vorarlberg vor“, lacht er heute. Also ging er nach einer Lehre als Patissier in den Staatsdienst – zur Polizei. Stationiert wurde er dann im Montafon, wo Künstler und Mäzene ihre Sommerfrische verbringen, so auch die berühmte Elisabeth Schwarzkopf. Bei ihr wurde er vorstellig, „sicherheitshalber in Uniform, da wirkt man besser“.
Die Sopranistin war beeindruckt von seiner Stimme und vermittelte Pecoraro nach Modena. Hier öffneten sich die Türen zur großen Opernwelt – und zu kleinen Acetaie, wie die Balsamico-Manufakturen genannt werden. „Ich studierte bei Arrigo Pola, dem Professor von Luciano Pavarotti und Mirella Freni. Und ich hatte viel Zeit nebenher“, erzählt der Genussmensch, der wie magisch von den Geheimnissen des Aceto Balsamico angezogen wurde, diesem „Elixier“, in dem Süße und Säure, Weichheit und Würze eine so unnachahmliche Verbindung eingehen. Das Wissen um die Herstellung wird von Generation zu Generation weitergegeben und streng gehütet. „Ich hatte Glück, denn Fußballstars, Autorennfahrer und Opernsänger haben in Italien eine Sonderstellung“, erklärt er. „So durfte ich bei der Produktion mithelfen und das Handwerk nach und nach erlernen.“
Nach Abschluss seines Studienjahrs fuhr er nach Hause, wertvolles Wissen im Kopf und zwei Balsamico-Fässchen im Kofferraum, die er für satte 40.000 Schilling (heute etwa 2.900 Euro) kaufen durfte. „Jetzt ist er narrisch geworden“, war der Kommentar seiner Familie, als er mit ihnen zu Hause in Vorarlberg die Basis zu seiner Balsamico-Produktion schuf. Zunächst einmal auf dem heimischen Dachboden und ohne permanente strenge Aufsicht, denn der neue Lebensmittelpunkt der Familie wurde Graz, wo Herwig Pecoraro 1984 an der Oper ein Engagement erhielt und 140 Vorstellungen pro Saison sang. Von Operette über Musical bis zur italienischen Oper. Kein Wunder, dass die Balsamico-Produktion in dieser Zeit nur langsam wuchs und im Experimentierstadium blieb.
Das sollte sich im Zuge einer künstlerischen Neuorientierung ändern: 1991 debütierte Herwig Pecoraro als Steuermann in Wagners „Fliegendem Holländer“ an der Wiener Staatsoper, zu deren festem Ensemble er seither gehört. Die Balsamico-Fässer zogen mit ins neue Domizil vor die Tore Wiens nach Klosterneuburg. Dort lagerten sie zunächst in einem Holzschuppen, der bald zu klein wurde. „Aber es war der Zeitpunkt gekommen zu sagen: ganz oder gar nicht“, erzählt Pecoraro. Er und seine Frau Waltraud entschieden: „Wir machen es für uns und richtig professionell.“ 1997 entstand neben dem am Hang gelegenen Wohnhaus der Familie eine Acetaia, die ebenso gut in Modena stehen könnte, wo der Balsamico traditionell auf dem im Sommer heißen und im Winter kalten Dachboden lagert.
In dem neu erbauten Gebäude mit Glasfront reift in 1.300 Holzfässchen Traubenmost seiner Vollendung zum Aceto Balsamico entgegen. 14.000 Liter Grüner Veltliner aus dem Weinviertel werden zunächst jedes Jahr bei 85 Grad Celsius auf gut ein Drittel einreduziert. Das geschieht binnen eineinhalb Tagen vor dem Gebäude über offenem Feuer. Dieser eingedickte Most wird dann auf 60-Liter-Holzfässchen verteilt und im Jahresrhythmus in immer kleinere Fässchen umgefüllt, bis nach neun Jahren das fertige Produkt in Pecoraros 0,2-l-Flakons präsentiert werden kann. Nach dieser Zeit ist jedoch nur noch ein Bruchteil der ursprünglichen Flüssigkeitsmenge übrig: Aus 14.000 Litern Most sind 140 Liter dickflüssiger, schwarz-brauner Balsamico geworden. Ein kleiner Teil der Produktion darf bis zu 15 Jahren weiterreifen.
Im Holz der Fässchen bilden Hefepilze und Essigbakterien eine Symbiose. Je älter das Fass, umso besser funktioniert die „schleichende Fermentation“, in der sich der Zucker des Mosts in Alkohol und dieser parallel in Säure umwandelt. Gleichzeitig geht durch Verdunstung Flüssigkeit verloren, das „Elixier“ wird konzentrierter, das nächste Fässchen muss wieder kleiner sein; alle Fässer sind jeweils nur zu zwei Dritteln gefüllt. Ihre Öffnungen werden mit einer Gaze abgedeckt, damit Sauerstoff in dieses offene System gelangen kann, das recht sensibel auf Störungen durch fremde Mikroorganismen reagiert. Mindestens alle zwei Wochen muss jedes Fässchen mit Taschenlampe und Spiegel kontrolliert und der Inhalt geschmacklich geprüft werden. Sollte sich ein Behälter infizieren und „aus dem Ruder laufen“, wird alles getan, um ihn zu retten. „Im äußersten Fall müssen wir das Fass entleeren und komplett desinfizieren“, erklärt Waltraud Pecoraro.
Eine ausgeklügelte Technik hilft, das Mikroklima von Modena zu imitieren, wo die Sommernächte lauer und die Winter nicht ganz so frostig sind wie in Klosterneuburg: Ein Gebläse verteilt an Sommertagen die sich unter dem Flachdach sammelnde warme Luft, sodass in der Halle eine konstante Temperatur von 42 Grad herrscht. Granitsteine an der Rückwand dienen als Wärmespeicher; im Winter, wenn der Balsamico „schläft“, hilft zusätzlich eine gute Isolation.
Im Jahr 2001 war es soweit, die erste Produktion war reif zum offiziellen Verkauf. Was fehlte, war noch der behördliche Segen. „Die Beamten kamen, schauten sich den Betrieb an und waren begeistert von dem Produkt“, erzählt Herwig Pecoraro. „,Doch es gibt ein Problem’ sagten sie. ,Sie dürfen den Aceto nicht verkaufen, denn nach dem Lebensmittelkodex muss Essig sechs Prozent Säure haben.’ Ich war geschockt, denn echter Balsamico hat halt mal nur vier Prozent Säure.“ Und mit dem Begriff Essig für sein „Elixier“ bringt man ihn ohnehin auf die Palme.
Der Vorschlag, die Herstellungsvorschriften von Modena zu übersetzen und offiziell zu übernehmen, kam für die österreichische Bürokratie natürlich nicht in Frage. Was sich nun so operettenhaft anhörte, nahm fast tragische Züge an, denn „der Balsamico musste raus und Geld rein, sonst wäre alles den Bach runtergegangen“, erklärt Pecoraro. Nachdem er vor Ort einen wissenschaftlich untermauerten Vortrag über sein Produkt gehalten hatte, wurde die entsprechende Kategorie für den Lebensmittelkodex gefunden, der behördliche Segen erteilt, und der Verkauf konnte beginnen. „Natürlich habe ich als Kammersänger an der Staatsoper eine tolle Geschichte dazu zu bieten, das erleichterte den Start“, gesteht Pecoraro zu, „doch wenn das Produkt nicht überzeugt, dann ist es wie eine Sternschnuppe, die verglüht.“ Pecoraros Balsamico überzeugt Spitzenköche und andere Kenner. Eine Erhöhung der Produktion kommt aber nicht in Frage, der Qualität zuliebe. „In dieser Größenordnung können wir jeden Arbeitsgang selbst erledigen“, erklärt Waltraud Pecoraro, „und wir geben zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle aus der Hand. Wir haben in Jahrzehnten das Gespür für den Balsamico entwickelt, und das braucht es für einen nachhaltigen Erfolg.“ Und den hat der Aceto Pecoraro – so nachhaltig wie der Geschmack, den er am Gaumen hinterlässt.