„Am Anfang zu wenig – am Ende zu viel“
Experten beklagen: Ernährungstherapie wird oft zu spät eingeleitet
Rund 200.000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland an Krebs. Viele davon könnten möglicherweise länger leben, wenn eine der häufigsten Komplikationen dieser Erkrankung frühzeitig behandelt würde: die Mangelernährung. Darauf machten heute in Berlin führende Onkologen und Ernährungsmediziner aufmerksam. Sie plädierten auf dem 29. Deutschen Krebskongress für eine regelmäßige Erfassung des Ernährungszustands der Krebspatienten, um durch Ernährungsberatung und -therapie rechtzeitig gegensteuern zu können.
Fünfzehn bis 40 Prozent aller Tumorpatienten leiden – so die Chefärztin der Klinik für Onkologie und Hämatologie des Krankenhauses Nordwest in Frankfurt, Prof. Dr. Elke Jäger – unter ungewolltem Gewichtsverlust, in fortgeschrittenen Krankheitsstadien sogar bis zu 90 Prozent. Dennoch wird eine Ernährungstherapie oft zu spät eingeleitet, beklagte der Ernährungsmediziner Dr. Matthias Pirlich.
Zwei Ursachen nennt der Chefarzt der Berliner Evangelischen Elisabeth-Klinik dafür: Zum einen seien das Screening des Ernährungszustandes und die Erfassung eines ungewollten Gewichtsverlustes mit entsprechenden Verlaufskontrollen sowohl in deutschen Krankenhäusern als auch im ambulanten Bereich noch immer nicht Standard. Zum anderen seien Ärzte und Pfleger durch die zunehmende, oft medizinisch unbegründete Kritik an künstlicher Ernährung verunsichert.
Prof. Dr. Elke Jäger verdeutlichte die Folgen einer Mangelernährung: die Abwehrkräfte des Körpers würden geschwächt, die Tumortherapie schlechter vertragen, Lebensqualität und Lebensdauer beeinträchtigt.
Die Mediziner betonten einerseits, zwar sei unstrittig und gesellschaftlich akzeptiert, dass künstliche Ernährung bei schweren Erkrankungen, bei denen Aussicht auf Besserung bestehe, eingesetzt werden soll, weil sie die Behandlungs- und Lebensqualität verbessere. Andererseits werde unterstellt, dass künstliche Ernährung insbesondere durch Sondennahrung den natürlichen Tod hinauszögere und damit das Leid Schwerstkranker unnötig verlängere.
Angesichts dieses Spannungsfelds werde die Ernährungstherapie oft zu spät eingeleitet und damit die Chance auf eine Förderung von Genesung oder Verbesserung der Lebensqualität vertan. In der Spätphase einer weit fortgeschrittenen unheilbaren Krebserkrankung werde sie dagegen oft zu lange fortgesetzt. Daher gelte es, die Indikation zur Ernährungstherapie mit Trink- oder Sondennahrung während einer onkologischen Therapie immer wieder neu zu prüfen. Insbesondere in der Palliativversorgung müsse die Therapie dem Wunsch des Patienten angepasst werden. Dr. Pirlich brachte dieses ethische Dilemma mit den Worten auf den Punkt: „Am Anfang zu wenig – am Ende zu viel.“
Die Hersteller von Trink- und Sondennahrung sehen diesen Zwiespalt, in dem sich Ärzte und Pflegekräfte befinden, als Herausforderung, betonte Norbert Pahne, Geschäftsführer des Bundesverbands der Hersteller für eine besondere Ernährung (Diätverband). Schon vor zwei Jahren hat der Verband daher die Aktion „Ungewollter Gewichtsverlust – jeder Krebspatient muss auf die Waage“ ins Leben gerufen, um Ärzte, Patienten und pflegende Angehörige für die Bedeutung und negativen Folgen eines ungewollten Gewichtsverlust zu sensibilisieren sowie adäquate stufenweise ernährungsmedizinische Strategien zu thematisieren. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Krebsgesellschaft sowie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) hat der Verband daher unter anderem Gewichtserfassungskarten und eine Software entwickelt, die es erleichtert, die Ernährungssituation und den Gewichtsverlauf systematisch zu erfassen. Der Diätverband kündigte an, dass er sich offensiv in die ethische Diskussion um künstliche Ernährung einbringen will. Den Auftakt dazu bildet ein Ethikworkshop, zu dem der Verband während des Kongresses „Ernährung 2010“ einlädt, den die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) vom 17. bis 19. Juni in Leipzig veranstaltet.